Das schnelle Vergessen

Menschen vergessen schnell.
Ein Riesenaufschrei nach dem Anschlag in Berlin – und sogleich steht wieder anderes im Vordergrund. Das Gleiche spielt sich jedes Mal ab, sei es Paris oder Nizza, München oder Berlin.
Ein Riesenaufschrei, wenig konkrete Hilfe & zurück in den eigenen Alltag. Das hat natürlich seinen Sinn; wir können uns ja nicht mit dem Leiden überall auseinandersetzen.

Und doch behagt es mir nicht. Das hat sicher auch damit zu tun, dass ich weiss, wie schlimm es sein kann, wenn Menschen gleich wieder vergessen, und wie ohnmächtig man sich demgegenüber fühlen kann: ohnmächtig, ausgeliefert & alleine in einer Welt, wo ein Vergessen nicht funktioniert. Zwar nicht wirklich alleine – viele Menschen sind von schweren Erkrankungen oder anderen Schicksalsschlägen betroffen, die ein Vergessen ausschliessen. Aber in den Momenten & Situationen, wo man damit konfrontiert wird, wie schnell Unbetroffene vergessen, fühlt man sich alleine.

Vergessen kann man die Diagnose einer schweren chronischen Erkrankung nicht. Man wird viel zu oft & viel zu heftig daran erinnert. Vergessen kann man sicher auch eine Krebsdiagnose nie. Auch dann nicht, wenn man den Krebs besiegt, auch zehn, zwanzig, dreissig Jahre später nicht. Spuren bleiben für immer. Da bin ich mir sicher.

Und ich habe jetzt gerade das Bedürfnis zu wiederholen, was ich schon einmal geschrieben habe: Wenn der Medizin im nächsten Jahr, das bald beginnt, ein Supercoup gelingen sollte, dann wünsche ich ihn mir für alle Krebspatienten & -patientinnen. Für alle betroffenen Kinder zuerst – Krebs bei Kindern entwickelt eine andere Dynamik als bei Erwachsenen, wächst schneller & ist aggressiver.

Daran habe ich heute wieder gedacht, als ich sechs Briefe zur Post brachte. In zwei Umschlägen steckt das kleine Buch, das in Victors Andenken geschrieben & gemalt worden ist. Ich schickte es am Samstag schon einer Bekannten aus Deutschland, weil es gut passt zu dem, was sie mir von ihrer täglichen Arbeit geschrieben hatte.

Zudem hat sie mir von einem Lied geschrieben, bei dem sie immer an mich denkt: „Wenn sie tanzt“ von Max Giesinger. Das hat mich gefreut & berührt. Und ich möchte Katrin an dieser Stelle noch einmal für die offenen, ehrlichen & ermutigenden Zeilen danken.

Der Song gefällt mir gut, auch das Video dazu: sehr schön, sehr ehrlich. Ich habe mir geschworen, das Tanzen nachzuholen, wenn es wieder geht. Das wird noch eine Weile dauern, aber ich werde es nachholen.

Momentan bin ich froh, wenn ich überhaupt noch liegen kann, denn sogar auf dem Bauch tut es mittlerweile weh. Ich vermute, die durch die Verletzungen entstandenen Entzündungen des Brust- & Rippenfells reagieren darauf, dass ich auf dem Bauch schlafen muss. (weil die Rückenschmerzen zu stark sind, um auf dem Rücken zu schlafen) Die Seiten sind wegen der Schulterprellungen ebenfalls keine Option. Falls ich auf dem Bauch auch nicht mehr liegen kann, wird die Schmerzmittel-Frage sich erübrigen. Dann bin ich aus dem Dilemma raus.

Aber nur in der Praxis. In meinem Kopf besteht es weiterhin, da ich alles daran setze, keine nehmen zu müssen. Dafür gehe ich regelmässig an die Grenzen & darüber hinaus, so auch jetzt wieder. Ob das gut ist, weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass ich nicht wahllos zu Schmerzmitteln greifen darf & gewisse Wirkstoffe vermeiden muss. Und ich weiss, dass ich so wenig wie möglich zusätzliche Belastungen auf meine Organe loslassen möchte. Es wäre für mich eine Art „Versagen“, Schmerzmittel zu nehmen.

Das ist nicht rational; da bin ich wohl eine Spur zu stur. Aber hinter der Sturheit stecken Angst & Vernunft. Also doch rational. Ratio bedeutet Vernunft, Verstand.

Heute Morgen lag ich flach, vom Mittag an ging es besser. Ich bin glücklich, dass ich die sechs Briefe zur Post bringen konnte. Solange das Fieber unter 39 Grad bleibt, gehe ich nicht zum Arzt. Wohl auch eine Spur zu stur, aber ich mag momentan nicht schon wieder zu einem Arzt oder einer Ärztin gehen.

Ich versuche, es mit pflanzlichen Wirkstoffen zu senken. Wenn es bleibt, muss ich es ernst nehmen, denn wahrscheinlich hat es mit den Folgen der Verletzungen zu tun & ist dann nicht (ganz) harmlos. Das weiss ich schon; darum habe ich mir auch die Limite mit den 39 Grad gesetzt.

Das schnelle Vergessen ist auch in Bezug auf einen Unfall ein leidiges Thema. Wenn er passiert, ist er für kurze Zeit das Hauptthema. Danach geht alles weiter wie zuvor – ausser für die Betroffenen.

Für mich ist es heute kein bisschen besser als vor einer Woche, als die Erleichterung darüber, dass ich mich noch bewegen konnte, einiges überdeckte. Diese ist immer noch hier. Sie wird für immer an erster Stelle stehen. Aber für mich geht die Geschichte weiter; ich vermute, noch ziemlich lange.

Ich kenne meinen Körper gut. Zehn Jahre Taj Ji, zwei problemlose Schwangerschaften & zwei natürliche Geburten sowie eine (schwere) organische Erkrankung haben mich viel über ihn gelehrt. Ich kenne ihn gut & spüre, dass diese Verletzungen & die Folgeerscheinungen nicht nach ein paar Tagen wieder verschwunden sind.

Nein, vergessen funktioniert – ein weiteres Mal – nicht.

 

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