Blumen – unverblümt

Das mit dem Geburtstagsgeschenk hat präzise hingehauen: Die Therapie hat Ende März – endlich – zu wirken begonnen, was sich anfangs April schon ziemlich deutlich zeigte und eben vergangene Woche zu einer wirklich guten Woche machte, wo ich dreimal hintereinander am Abend ausging und dreimal keine Angst haben musste, dass etwas passieren könnte. Darauf stiessen wir am Mittwochabend mit dem ersten Apérol Sprizz dieser Saison an. Am Abend war diese Angst zwar sowieso nie gross, aber auch nicht inexistent. Am Morgen war sie jeweils gross und ist jetzt noch nicht ganz verschwunden, aber viel kleiner geworden. So klein, dass ich am Freitag den ganzen Morgen zu Taieb auf Schulbesuch ging, was mir gut gefiel und guttat. Ich setzte mich neben Taieb, konnte beim Englischunterricht mithelfen, was cool war, und schaute dem Wolf, der mir genau gegenüber war, kompromisslos in die Augen. Auch dem Bären auf dem Poster gerade unterhalb desjenigen mit dem Wolf. Aber der Bär ist einfach keine Herausforderung. Darum waren meine Augen fast ausschliesslich auf den Wolf gerichtet.

Es gibt natürlich auch die Kehrseite der Medaille: Die Tatsache, dass die Entzündungen zurückgegangen sind und es mir gut geht, bedeutet auch, dass das Immunsystem erfolgreich heruntergefahren worden ist. Damit es aufhört, körpereigenes Gewebe, das es aufgrund einer genetisch mitbedingten Fehlsteuerung als fremd erkennt, anzugreifen, zu bekämpfen und letztlich zu zerstören. Die Tatsache, dass das Immunsystem offenbar erfolgreich heruntergefahren worden ist, bedeutet aber auch eine permanent erhöhte Anfälligkeit für Infekte und schwere(re) Verläufe bei erfolgter Ansteckung. Dies war unter den Kortisontherapien schon gegeben, ist bei klassischen Immunsuppressiva aber noch verstärkt. Den Zusammenhang habe ich schon mehrfach zu erläutern versucht, und jedes Mal, wenn ich ihn – oder andere „Dinge“, die mir besonders wichtig sind – wiederhole, geschieht dies bewusst und absichtlich. Weil die komplexen Zusammenhänge und die vielschichten Folgen (von Folgen von Folgen) Unbeteiligten meistens nicht bekannt sind, das Leben der Betroffenen aber massgeblich beeinflussen und beeinträchtigen. Darum versuche ich immer wieder, sie aufzuzeigen und zu erklären.

Wenn ich mich zwischendurch mit Menschen treffe, die sofort verstehen, ohne dass sie Erklärungen bräuchten, ist dies wohltuend und bringt eine Leichtigkeit ins Gespräch, die Raum und Energie für anderes schaffen kann. So ging es mir zum Beispiel am Freitagabend, als ich wie vor zwei Monaten mit meiner Freundin Janine in der Tapas-Bar in Wallisellen essen ging – und trinken auch… 🙂 Ich musste nichts erklären zu Imurek; sie weiss, dass dies kein Spaziergang ist und dass die Gründe, aus denen es überhaupt zu einer Imurek-Therapie kommt, schon gar keine Spaziergänge sind. Sie weiss, dass Immunsuppressiva starke Medikamente sind, die man eigentlich nicht über längere Zeit einnehmen sollte, oft aber über längere Zeit einnehmen muss, damit die Wirkung anhält. Sie weiss, dass es immunmodulierende Medikamente gibt, die das Immunsystem eben lediglich modulieren, also anpassen und verändern, nicht aber unterdrücken. Auch sie erhöhen die Anfälligkeit vielleicht ein wenig, aber niemals vergleichbar mit den immunsupprimierenden (unterdrückenden) Medikamenten.

Sie nannte die Therapie „heavy“, ohne dass ich viel erzählt hätte; sie brauchte das Wort mehrmals, ohne dass ich dafür schlecht hätte aussehen müssen. Sie hat gelesen, dass der Wirkstoff Azathioprin beispielsweise vor und nach Transplantationen angewendet wird, und ich ergänzte, dass er auch gegen Leukämien zum Einsatz komme. Sie findet die Dauer von einem Jahr lange, und ich ergänzte, dass mir vor dem nächsten Winter graue – im wörtlichen und vor allem im übertragenen Sinn. Weil ich mit total heruntergefahrenem Immunsystem in den nächsten Winter hineingehen und den Infekten, die dann jeweils Hochkonjunktur zu haben pflegen total ausgeliefert sein werde, was ja im soeben vergangenen Winter schon problematisch wurde und im nächsten wohl noch um den Faktor „unbekannt“ potenziert sein wird. Vorher freue ich mich jedoch über den gelbvioletten Frühling, auf einen blaugrünen Sommer und einen rotgoldenen Herbst. Ich freue mich auf die Reisen nach Irland und England, auf die bevorstehenden Treffen mit Freunden und auf die Konzerte. Ich freue mich, nach den Ferien damit beginnen zu können, mich in eine neue Welt vorzuwagen und beruflich eine neue Richtung einzuschlagen.

Nachdem mir am Freitagabend wiederum zwei Personen völlig unabhängig voneinander Komplimente zu den Texten und zum Schreibstil gemacht haben, bin ich mir sicher, dass ich es schaffen muss und schaffen werde. Das Schreibenkönnen zieht sich wie ein Band durch fast mein ganzes Leben, und die Personen, die mir dafür Komplimente machten, Referenzen schrieben oder Noten gaben, sind wie Leuchttürme, die immer wieder im weiten Ozean des Schreibens auftauchten. Bis die mageren Jahre kamen; nicht sieben wie in der Bibel, sondern mehr als sieben. Weil ich Kinder bekam und weil ich – ausgelöst durch das Kinderbekommen – auf eine Reise ins Ungewisse geschickt wurde. Nicht nur auf die ohnehin schon abenteuerliche und herausfordernde Reise mit Kindern, sondern auch auf die Reise mit einer noch herausfordernderen Krankheit. An dieser Stelle auch wieder einmal ein Dank an diejenigen, die mir in den letzten Wochen und Monaten geschrieben und mitgefühlt haben. So, wie die zahlreichen positiven Rückmeldungen zum Schreiben an sich mich natürlich freuen, tun die Nachrichten zum Inhalt, zu den nicht immer ganz so lustigen Ereignissen im Zusammenhang mit meiner Reise ins Ungewisse, gut. Das möchte ich wieder einmal ausgedrückt haben. Auf Reisen ins Ungewisse sind wir sowieso alle – ausnahmslos alle. Mit einer Krankheit, die bisweilen als die unvorhersehbarste und vielschichtigste aller Krankheiten bezeichnet wird, erreicht die Ungewissheit aber eine zusätzliche Dimension – oder zusätzliche Dimensionen.

Einer meiner Ghosts ist auferstanden und wieder Mensch geworden. Den Begriff des Ghosting hatte ich in einem Artikel einer guten Journalistin kennen gelernt und im Beitrag „Von Menschen und Geistern“ erläutert. Ich schätzte mich schon fast glücklich, eigentlich nur drei Ghosts in meinem Leben zu haben. Jetzt sind es nur noch zwei, und wenn ich es genau nehme, gar keine mehr. Denn bei den anderen beiden scheinen Gründe, die mit ihnen selbst zu tun haben, nicht mit mir, ausschlaggebend zu sein, dass ich nichts mehr von ihnen gehört habe. Ich werde mich, glaube ich, in einem stimmigen Moment bei ihnen melden. Die vielen Berichte, die ich über chronische Krankheiten und den damit zusammenhängenden Verlust von Freundschaften gelesen habe, hatten mich wohl auch (zu) skeptisch werden lassen. Jetzt habe ich mich davon befreit und schätze mich wirklich sehr glücklich, dass aus den nur drei Ghosts zwei geworden sind und diese wahrscheinlich auch keine „richtigen“ sind. Vielleicht kann ich ja auch diese Tatsache als ein ganz, ganz kleines Kompliment nehmen, in dem Sinne, dass die meisten Menschen wohl eine ganz gute Menschenkenntnis haben und merken, dass es längst nicht nur „fake being sick“, sondern auch „fake being well“ gibt. Darin bin ich fast noch besser als im Schreiben, und darum tut es mir besonders gut zu erleben, dass offenbar fast alle dies dann eben merken. Ohne meine Texte oder spätestens beim Lesen derselben.

Jedenfalls freue ich mich über den abgebrochen geglaubten Kontakt, der doch nicht abgebrochen ist, sondern weitergeht. So, wie ich mich am vergangenen Montag über den Besuch bei Monika und ihrem süssen Baby freute; der Besuch, den ich wegen einer erneuten Infektion – zum Glück aber nach zwei Tagen abgewehrt (!) – hatte verschieben müssen. So, wie ich mich darüber freue, dass ich trotz grossem Freundes- und Bekanntenkreis auch noch Platz für „neue“ Menschen habe. Zum Beispiel für Ludmila, die ich gestern kennenlernte, da ihre Kinder und unsere Kinder an der Übernachtungsparty in der Kinderspielhalle „Berolino“ in Lauchringen teilgenommen hatten und wir beim Abholen miteinander ins Gespräch kamen. Taieb und Maxim, 13 Tage Altersunterschied, spielen jedes Mal miteinander und verbringen die ganze Zeit gemeinsam. Die Chemie zwischen ihnen stimmt. Und sie stimmt auch zwischen Ludmila und mir; ihre Art, sich ehrlich und unverblümt über das Zusammenleben mit Kindern zu äussern, überzeugt und bereichert mich so viel mehr als die Fluten von beschönigenden und permanente Glückseligkeit vorgaukelnden Fotos auf gewissen sozialen Netzwerken. Wir werden uns nach den Frühlingsferien treffen und unser Samstagmorgengespräch fortsetzen.

Ehrlich und unverblümt.

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