Eva und Naila, achtjährig

„Chäschüechli“ als Zwischenmahlzeit sind auch nicht schlecht. Lieber hätte ich zwar etwas Süsses gegessen, aber es geht auch so – jedenfalls für diese absehbare Zeit. Naila wollte Chicken Nuggets mit doppelter Portion Ketchup. Also suchte ich für mich eine Alternative zu den „Osterchüechli“, die noch angeboten wurden und die ich lieber gehabt hätte.

Wir waren mit dem Zug ins Glattzentrum gefahren – Autofahren darf ich zur Zeit nicht – und die achtjährige Eva suchte ihren Papa. Naila war erschüttert von der Lautsprecherdurchsage. Als ich lachte, lachte sie jedoch auch – wir lachten zusammen und hofften, dass die achtjährige Eva ihren Papa oder der Papa seine achtjährige Eva bald wieder finden würde.

Die Dauerkopfschmerzen hielten auch gestern an und halten heute an – die anfänglichen Druckwellen sind zu einem Dauerdruck geworden, weniger stark zwar, aber permanent. Wenn der Druck grösser wird und die Schmerzen stärker werden, muss ich mich in England sofort in ärztliche Behandlung begeben. Dies hat mir der Arzt, der mich am Freitagmorgen noch einmal untersuchte, gesagt. Zudem habe ich bei ihm am kommenden Freitagnachmittag einen weiteren Kontrolltermin – wir kommen am Freitagmittag aus London zurück. Ich hoffe natürlich sehr, dass die Schmerzen und der Druck zurückgehen oder zumindest bleiben, wie sie sind, und nicht zunehmen. Ich möchte in den nächsten fünf Tagen keinen Arzt/keine Ärztin aufsuchen müssen. Andererseits bin ich nicht unruhig deswegen; ich kenne mich sowohl in Birmingham als auch in London gut aus. In Birmingham wohnte und arbeitete ich 1995/1996 für ein Jahr und bin mehrere Male dorthin zurückgekehrt; wie viele Male ich schon in London war, habe ich nie gezählt. Auch habe ich eine Freundin dort, die ich am Dienstagabend treffen werde. Ich kenne also beide Städte wirklich gut, und ich kenne Menschen in beiden Städten. Dass etwas passiert, möchte ich trotzdem nicht, möchte ich nie, aber wenn es jetzt schon zusätzlich riskant sein muss, dann sind Birmingham und London die geeignetsten Orte dafür…

In Birmingham war ich schon einmal im Spital. Im November oder Dezember 1995. Nur war der Grund ein ganz anderer…: Ich wurde – nach einer aufregenden Nacht mit einem Studenten – plötzlich von einer grossen Panik überfallen, ich könnte mich mit dem lebensbedrohlichen Virus angesteckt haben: HIV und AIDS waren in aller Munde. Warum ich nicht auf Verhütung insistiert hatte, konnte ich damals nicht beantworten – und kann es auch heute nicht. Ich war 22, er war 26. Er studierte Wirtschaft, ich unterrichtete Deutsch. Ich war aus der Schweiz angereist, er war aus Frankreich gekommen; aus Grenoble, um genau zu sein. Er hat ein halbes Dutzend Geschwister, ich bin ein Einzelkind. Ich habe türkisch-zypriotische Wurzeln, er hat marokkanische. Er wollte nicht verhüten, ich wollte schon. Ich gab nach und schwor mir, als diese Panik sich in mir ausbreitete und mein Leben für ein paar Tage auf den Kopf stellte: „Nie mehr mit einem Marokkaner.“ Der Rest ist Geschichte… 😉

Ich war dann HIV-negativ; mein Leben ging weiter. Ohne Stéphane. Die bangen, angstvollen Stunden und Minuten vor dem Testresultat werde ich jedoch nie vergessen. „Keep it low-profile.“, hatte die Krankenschwester nach der Blutabnahme zu mir gesagt. Den Ausdruck hatte ich zuvor nicht gekannt, vergessen werde ich ihn nie. Es gelang mir nicht wirklich, die Möglichkeit „low-profile“ zu halten; umso grösser waren die Erleichterung und das Gefühl, ein zweites Leben geschenkt bekommen zu haben, nach dem Testresultat. Wenn ich morgen oder übermorgen in Birmingham „King’s Heath“ lesen werde, werde ich daran denken. In dem Stadtteil hatte die Nacht sich abgespielt. Darauf gekommen bin ich hier und jetzt, weil ich morgen, wenn wir um 7.05 Uhr starten, mit einem leicht erhöhten Risiko, wieder in Birmingham oder zum ersten Mal in London ärztliche Behandlung zu brauchen, hinfliege. Leicht erhöht in Bezug auf meinen eigenen Risikolevel, der sowieso immer erhöht ist im Vergleich zu Menschen, die keine chronischen Krankheiten haben. In Städte, die ich nicht kenne und/oder in denen ich Verständigungsprobleme haben könnte, würde ich nicht fliegen. Ich hätte die Reise abgesagt. Aber Birmingham und London sind kein Problem, und ich bin zuversichtlich.

Ich hoffe auch, dass wir nicht zum Flugzeug rennen müssen wie in Dublin. Wir waren nicht nur rechtzeitig, sondern sogar früh am Flughafen gewesen und hatten das Gefühl, gar nicht mehr auf die Uhr schauen zu müssen. So wurde es dann sehr knapp; auf der Tafel stand bei unserem Flug bereits „closed“. Das war mir schon einmal passiert, als ich von Casablanca zurückflog (nie mehr mit einem Marokkaner…, genau!) und in Paris umsteigen musste. „Gate closed“, keine Chance mehr. Am Nachmittag hätte ich arbeiten sollen… Ich rief meine Mutter an, und sie rief Guido, meinen damaligen Chef, an. Guido hatte Verständnis. Nicht gespieltes Verständnis, sondern ehrliches Verständnis. Guido hat mir mit seiner offenen und unkomplizierten Art und seiner Menschenkenntnis damals sehr geholfen. Die nicht gehaltenen Lektionen kompensierte ich später selbstverständlich. Ein „Theater“ gab es nicht – im Gegenteil. (Das ist nicht selbstverständlich, wie ich ebenfalls aus eigener Erfahrung weiss und wozu ich auch noch eine Episode zu erzählen hätte…) Ein „Theater“ gab es dank der Freundlichkeit des Bodenpersonals auch in Dublin nicht; wir wurden noch durchgelassen und waren nicht die einzigen, die froh darum waren. Froh um diese Freundlichkeit, wirklich.

In dem Moment wusste ich aber auch mit letzter Sicherheit, dass der Stoss an den Kopf nicht so ganz harmlos gewesen sein konnte. Nach dem Rennen waren die Kopfschmerzen nämlich so stark, dass ich dachte, ich würde den Rückflug nach Zürich nicht überleben. Die Erinnerung an den Rückflug von Heraklion kam auf, obschon der Grund damals ein anderer gewesen war. Zudem tat mir von dem Rennen im Bereich der Lungen und der Atemwege „alles“ weh – und zwar sehr. Nach eineinhalb Jahren ohne Sport nicht verwunderlich. Aber nicht lustig – gar nicht. Noch weniger lustig ist zu hören oder zu lesen, dass andere einen Marathon gelaufen sind. Nicht, dass ich das auch gerne wollte; wie schon einmal geschrieben sehe ich den Sinn darin nicht, ausser er bestehe darin, sich selbst und anderen die Leistung zu beweisen. Aber Leistung um der Leistung willen ergibt für mich keinen Sinn. Nein, nicht, dass ich das auch gerne wollte. Aber ich wäre gerne in einem Zustand, wo ich auf einen Flug rennen kann, ohne dass der ganze Lungen- und Atemwegsbereich weh tut, sich ganz kalt anfühlt und ich kaum noch Luft bekomme. Ich möchte so fit sein, wie ich noch vor fünf Jahren war; ich möchte endlich mein halbstündiges „Training“ pro Tag wieder richtig aufnehmen können – nicht nur für ein paar Tage. Jetzt ist es ja schon wieder unterbrochen worden; ich darf für zwei bis vier Wochen nicht nur keinen Alkohol trinken und keine Süsswaren essen, sondern auch keinen Sport treiben.

Die Frage, ob die Unfälle etwas mit der generellen Schwächung durch meine chronische(n) Erkrankung(en) zu tun haben oder ob sie „zufällig“ passierten bzw. „auch sonst“ passiert wären, ist müssig. Eindeutige Antworten darauf werde ich nicht erhalten; es gibt sie nicht. Die Frage ist müssig und beschäftigt mich doch… Frau Richter, die Osteopathin, hat am Donnerstagnachmittag schnell gemerkt, dass durch den Stoss an den Kopf das gesamte System wieder beeinträchtigt worden ist. Stabil war dieses nach drei Behandlungen noch nicht, und darum sind auch die Rückenschmerzen sowie die thorakalen Schmerzen zurückgekommen. Sie hat gemerkt, wo der Druck im Kopf gerade ist; sie hat gemerkt, wo er sich verstärkt und wo er zurückgeht; sie hat gemerkt, wo die Rückenschmerzen stärker, wo schwächer sind, ohne dass ich darüber gesprochen hätte. Das war schon faszinierend und bestätigte mir ein weiteres Mal, dass alternative Behandlungsmethoden wunderbare Ergänzungen sein können. Ergänzungen zur westlichen Schulmedizin, die einen bei schweren Erkrankungen rettet, die Basis für „alles“ bildet und ohne die ich nicht mehr leben würde. Eine wunderbare Ergänzung war auch die Fussreflexzonenmassage bei Linda am Freitagnachmittag. Ich brauchte unbedingt noch zusätzliche Entspannung nach diesem erneuten Unfall, und Linda hatte zum Glück noch einen freien Termin.

Im Glattzentrum blieben wir übrigens nicht lange. Das darf ich zur Zeit auch nicht. Wir wollten lediglich die reparierte Kaffeemaschine abholen. Plötzlich war Naila nicht mehr neben und auch nicht hinter mir. Nirgends mehr zu sehen, Rufen nützte nichts. Auf dem Weg zum Kundendienst ertönte der Lautsprecher: „Die achtjährige Naila sucht ihre Mama.“

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