„Commotion cérébrale“:
Ich habe meinem Mann erst von London aus geschrieben, was ich habe und was in Dublin auch noch passiert ist. Betonung auf „auch noch“. Die frohen und glücklichen Stunden stehen im Vordergrund, und von ihnen habe ich erzählt. Die Kopfschmerzen, die er schon mitbekam, begründete ich mit Nebenwirkungen von Imurek – durchaus möglich und naheliegend. Sein Vorschlag ist jetzt, dass wir am Samstagabend ins „Fata Morgana“ gehen. Aus medizinischer Sicht vielleicht nicht die beste Idee, aus psychologischer Sicht schon. Also habe ich zugesagt und freue mich darauf. Zwei kleine Probleme habe ich allerdings.
„Commotion cérébrale“:
Den Ausdruck hätte ich beim Lesen und Hören sofort verstanden – Latein sei Dank -, aber in meinem aktiven Wortschatz war er nicht. Gründe, ihn nachzuschauen, hatte ich bis vor Kurzem keine. Meinen ersten nennenswerten Unfall hatte ich am 14. Dezember 2016, meinen zweiten am 15. April 2017. Das mag Zufall sein – oder auch nicht. Das mag Zufall sein – oder eine indirekte Folge von „allem“, was in den vorangegangenen Monaten und Jahren passiert war. Konkreter muss ich „alles“ nicht umschreiben; dazu gibt es mittlerweilen 143 Beiträge in meinem Blog. Sie zeigen zwar längst nicht „alles“, aber doch einen beachtlichen Teil aus dem Leben mit einer chronischen und schweren Erkrankung. Daher gehe ich hier nicht konkret darauf ein, um eventuelle Zusammenhänge zwischen den Erkrankungen, insbesondere einer, und den Unfällen aufzuzeigen. Ich weiss auch, dass sowohl meine Hausärztin als auch mein Hauptfacharzt Zusammenhänge vermuten. So ganz lustig ist das nicht, und so ganz einfach zu akzeptieren ebenfalls nicht. Doch es bleibt mir nichts anderes übrig, ausser ich nähme ihre Vermutungen nicht ernst und würde die eventuellen Zusammenhänge leugnen. Aber das würde gar nichts bringen. Und es wäre absurd: Die Personen, die mir aus verzweifelten Situationen geholfen haben, die mich vor dieser einen, wirklich schlimmen Erfahrung bewahrt hätten, wenn ich auf sie gehört hätte, die mir aus dem sich unselig drehenden Rad, aus dem ich keinen Ausweg mehr sah, weil ich am Arbeitsplatz nicht mehr (Betonung auf „mehr“) sagen konnte und durfte, wie krank ich war, und – mit einer Ausnahme – niemand es bemerkte, den Weg zu mir selbst und für mich selbst aufgezeigt haben, nicht ernst nehmen? Das geht nicht, das geht schlicht nicht.
Nein, 43 1/2 Jahre lang keinen nennenswerten Unfall zu haben und dann innerhalb von vier Monaten gleich zwei, ist wohl nicht einfach ein Zufall. Abschliessende Antworten auf diese Frage, die mich beschäftigt und die nicht ganz so locker daherkommt, wie man vielleicht meinen könnte, gibt es nicht und wird es nie geben. Das ist sogar besser so; wichtig ist, das, was ist, anzunehmen, sich damit auseinanderzusetzen und weiterzumachen. Auf Konzerte zu gehen, zum Beispiel. Von Chris de Burgh, zum Beispiel. Auch wenn ich jedes Mal diese eine, wirklich schlimme Erfahrung wieder durchlebe; jedes Mal, wenn der erste Ton erklingt, wenn die blauen Scheinwerfer aufblitzen, weiss ich es schon. Dann gibt es kein Entrinnen mehr. Wenn der Text beginnt, bin ich jedes Mal schon viel weiter und ganz froh darum, an den Anfang der Geschichte zurückgerissen zu werden und sie mit dem Publikum vereint mitzuerleben: „It was late at night on the open road, speeding like a man on the run…“ „Speeding“ wird für mich jedes Mal zu „falling“; das war kein Rennen, das war ein Fallen; ein Fallen ohne Ende, ein Fallen ins Ungewisse, schnell schon, das stimmt, schnell und schaurig, in horizontaler Lage, immer schneller, bis ein Brett unter meinen Rücken geschoben wurde, ein Holzbrett, das dem Fallen ein hartes, abruptes und unerwartetes Ende setzte.
Aus medizinischer Sicht vielleicht nicht die beste Idee, aus psychologischer Sicht schon ist auch die Reise nach Birmingham und London. Was jedoch psychologisch wertvoll ist, hilft immer auch medizinisch. Eher mittel- und längerfristig wahrscheinlich, weil ich daraus immer wieder Energie schöpfe, um ein weitgehend „normales“ Leben zu führen, wo Uneingeweihte nicht ahnen würden, welchen Herausforderungen ich mich immer wieder stellen muss und stellen kann und, weil ich muss und kann, auch stellen will. Zum Beispiel, dass ziemlich viele Haare ausgehen – mehr noch als bei den Kortisontherapien. Dass auch ziemlich viele nachwachsen, ist mein Glück; dass die „anderen“ davon nichts sehen, ist: mein Glück? Mein Pech? Ich selbst merke es jedenfalls deutlich; ich kämme mich nicht so lange und so oft, weil ich so eitel wäre, und ich spüre einen deutlichen Unterschied, wenn ich auf die Haare fasse oder durch die Haare streiche. Auch das ist nicht so ganz lustig. Meiner Bekannten, mit der ich am 19. April am Abend essen ging, erzählte ich kurz davon, da sie gefragt hatte. Dass es eben nicht einfach ist, wenn Haare ausgehen oder wenn ein Mensch sonst etwas, was zu seinem Körper gehört, verliert, unfreiwillig verliert, musste ich nicht einmal andeuten. Sie formulierte diese Tatsache gleich von sich aus. Und es war nicht der einzige, isoliert gesehen zwar kleine Punkt im jedoch grossen Netz von Folgen (von Folgen von Folgen…), den sie sofort verstand, ohne dass ich einen Satz hätte zu Ende sprechen müssen. Diese Art von Einsicht und Verständnis, ohne dass ich überhaupt zu erklären versuchen müsste, erwarte ich nicht, kann und darf ich nicht erwarten. Man sieht ja meistens nichts… Aber wenn sie mir entgegenkommt, diese Art von Einsicht und Verständnis, ist sie für mich sehr erleichternd und bewahrt mich davor, mich verloren und verlassen zu fühlen.
Hier in London gibt es auf der „Tube“ diese „Priority Seats“ – für Schwangere, Menschen mit Kindern auf dem Arm und solche mit einer Behinderung, einer sichtbaren Behinderung, versteht sich. Das Symbol, der Stock, macht es ganz klar. Ich würde mich nie trauen, mich dorthin zu setzen. Obschon ich dürfte. Obschon ich sogar einen Ausweis dafür habe. Aber das ist nur ein Stück Papier; eines, das zwar „alles“ sagt, eines aber auch, das Menschen, die nur aufs Äussere achten, nie verständen. Dem mag ich mich nicht aussetzen; von zu vielen negativen Erfahrungen anderer Betroffener habe ich gelesen. Klar, ich müsste vielleicht meine eigenen Erfahrungen machen; in Bezug auf Freundschaften sind sie ja auch sehr viel besser, als was ich oft von anderen lese. Ja, vielleicht müsste ich es ausprobieren… Aber momentan jedenfalls mag ich nicht; man sieht ja nichts… Das käme nicht gut, ich spüre es, ich befürchte es. So nehme ich jedes Mal einen weiter entfernten Sitzplatz oder stehe. Wie am Dienstagabend in der „Rush Hour“, als wir nach „Highbury and Islington“ fuhren und meine Freundin Natalia im „Fig and Olive“ trafen – ein schöner Abend; danke, Natalia! -, und wie gestern Abend wieder, als wir zum „Oxford Circus“ fuhren, um im „Argyll Arms“-Pub etwas zu essen, bevor das Konzert im „London Palladium“ – grossartiges Publikum, danke! – begann. So stand ich halt und hoffte, nirgends den Kopf anzuschlagen…, was in der Menschenmenge jedoch ein sehr kleines Risiko war. Auch sonst muss ich zur Zeit zusätzlich aufpassen, nicht nur mit dem Essen und Trinken. Ich soll mich zwar so viel wie möglich bewegen, doch übertreiben darf ich natürlich nicht.
Abgesehen von den beiden Konzerten muss ich „Lärm“ (nicht missverstehen, bitte!) und künstliches Licht meiden. Wir gehen auch nicht „shoppen“; das sollte ich nicht, weil es zu laut, zu grell und in der Menschenmenge auch zu unruhig zu- und herginge. Ich soll mich so viel wie möglich bewegen, aber an ruhigen Orten. So meiden wir sämtliche „Shopping“-Destinationen, nehmen die „Tube“ nur für den wirklich notwendigen Transport und geniessen ruhige Orte wie die weitläufigen Pärke oder die wunderschönen Kensington Gardens, die von unserem Hotel aus zu Fuss zu erreichen sind und wo auch Taieb auf seine Rechnung kommt. Zum Ungemach der armen Tauben… 😉 Am Morgen gehen wir den Tag langsam und gemütlich an, schlafen aus, frühstücken in Ruhe und nehmen uns Zeit. Das muss ich „alles“ so machen; nur unter diesen und ein paar weiteren Voraussetzungen hat der Arzt mich überhaupt reisen lassen. Aber es täte auch denjenigen, die keine Gehirnerschütterung haben, gut; da bin ich mir sicher… Vom Mittwochmorgen bis am Sonntagabend letzter Woche war ich häufig im Bett; lediglich geschrieben habe ich davon nicht viel, weil es langweilig ist – zum Lesen, meine ich. Das Liegen im Dunkeln ist nicht einmal so langweilig; ich konnte über das eine und andere nachdenken, was mich weiterbrachte und wozu im „Alltag“ leider oft die Musse fehlt. Es kann sein, dass noch ein paar solche Tage kommen werden, wenn wir zurück sind. Wir werden sehen… Die Unsicherheiten beim Gehen sind manchmal noch da, auch Unsicherheiten in Bezug auf Distanzen und die Anzahl anwesender Menschen. Das ist, wie das Gefühl, beim Sitzen nach vorne oder nach hinten gezogen zu werden, obschon ich nicht etwa am Autofahren wäre, irritierend und mitunter etwas beängstigend. Vor allem auf den schmalen Treppen in den verwinkelten Gregorianischen Häusern in London, zu denen unser „Guest House“ gehört.
Ob noch einmal für ein paar Tage häufig im Bett oder nicht: Auf das „Fata Morgana“ freue ich mich. Meine beiden kleinen Probleme sind übrigens der Wein und das Tanzen. 🙂