Folgen von Folgen von Folgen

Die Bilder der beiden vorherigen Beiträge
und
dieses Beitragsbild
nahm ich am Freitag in Passchendaele auf.
Es war ein prachtvoller Herbsttag:
die goldenen Blätter vor dem blauen Himmel
und
die Wärme der Sonne im Gesicht.
Doch
die Füsse auf dem Boden, auf dem Undenkbares sich zutrug;
auf dem Boden, in dessen Sumpf Soldaten in ihren schweren Rüstungen versanken und starben;
auf dem Boden, auf dem Blut floss.

Das Rot des Blutes;
das dunkle Rot der zarten Rosenblüten
und
das hellere Rot der Hagebutten;
das schöne Rot
und
das schreckliche Rot;
das Rot des Lebens
und
das Rot des Todes.

Was für ein Gegensatz
zwischen
dem prachtvollen Herbsttag
und
den Schrecken des Ersten Weltkriegs, die sich hier abspielten.
Was für ein …
Szenen aus „Im Westen nichts Neues“ kamen mir in den Sinn:

  • der röchelnde französische Soldat, der in einem Erdtrichter vor Paul Bäumer, dem Erzähler, stirbt, dessen Dienstbüchlein Paul Bäumer findet, anschaut und merkt, dass auch der Feind ein Mensch war, ein Ehemann, ein Vater, einen Beruf hatte und einen Namen trug: Gérard Duval, Buchdrucker.
  • die Mutter von Franz Kemmerich, als sie von Paul Bäumer erfährt, dass ihr Sohn gefallen sei, und wie Bäumer darauf über sein eigenes Leben und die Beziehung zu seiner Mutter nachdenkt.
  • die Beschreibungen aus dem Lazarett und dem Sterbezimmer, das Bäumer als erster Soldat lebend verliess.

Der Roman von Erich Maria Remarque
ist
das Buch,
das mir von allen Büchern, die ich gelesen habe,
am meisten eingefahren ist.
Es wird auch als Schullektüre verwendet.
Die Absicht dahinter mag lobenswert sein, die Umsetzung jedoch weniger: zusammenfassen, analysieren, interpretieren, Vorträge darüber halten und diskutieren.

Das wird dem Buch aber nie gerecht.
Auch nicht annähernd.
So zu tun, als ob irgendeine Methode, wie ausgefallen sie auch sein mag, einem solchen Roman je gerecht werden könnte, ist nicht in Ordnung:
dem Autor gegenüber nicht,
dem Erzähler gegenüber nicht,
sämtlichen Figuren gegenüber nicht,
allen gefallenen Soldaten gegenüber nicht
und
all ihren Familien gegenüber nicht.

Diesen Roman muss man
für sich lesen,
in sich aufnehmen
und
wirken lassen
und
mit sich selbst ausmachen,
ob man etwas daraus ins eigene Leben übernehmen kann.
Und wenn ja, was und wie.
Da gibt es nichts
zu zerpflücken
und
zu zerreden;
kein geschriebenes
und
kein gesprochenes Wort
werden dem geschilderten Geschehen je auch nur ansatzweise gerecht.

Ich habe es einmal getan,
weil ich es quasi tun musste;
ich würde es nie wieder tun.
Ich würde es nie wieder tun
und
ich könnte es nie wieder tun.
Unmöglich.

Nach der Erfahrung im letzten Januar
– da ging es auch um Rot und um Blut –
bin ich mir selbst gegenüber noch ehrlicher als zuvor schon.
Mir selbst und den anderen gegenüber.
Das passt nicht allen, aber das macht mir nicht (mehr) viel aus.

Darum berichte ich manchmal schonungslos.
Darum vergleiche ich verschiedene Arten von Müdigkeit, von Übelkeit, von Krankheit.
Darum interessieren mich Realitäten
und
nicht verschiedene Wahrnehmungen.

Ja, unser Wohnzimmer ist für mich in gröberem Durcheinander.
Für die Kinder ist es aber vollkommen in Ordnung.
Sooo spannend können verschiedene Wahrnehmungen sein…

(Ironie off)

In den meisten Berichten von Betroffenen
wird
diese furchtbare Müdigkeit,
die ich mir früher,
als ich halbe Nächte
durchstudierte,
durcharbeitete
oder
durchfeierte,
nicht im Geringsten hätte vorstellen können, thematisiert:
diese furchtbare Müdigkeit
sowie
die Tatsache,
dass bei vielen chronischen Krankheiten
von aussen
nichts zu sehen ist,
dass man nicht krank,
sondern „normal“,
vielleicht sogar gut
aussieht.

Diese beiden Problemkreise
werden
in fast jedem Bericht angesprochen.
Es ist Zeit,
dass sie nicht nur angesprochen,
sondern
in aller Deutlichkeit ausgesprochen werden.
Ja, man kann gut aussehen und krank sein;
ja, man kann krank sein und gut aussehen.

Wenn ich Berichte von Betroffenen lese,
erkenne ich
viel Unverständnis.
Ich glaube, ich habe da noch
Glück.
Doch auch ich habe solche Erfahrungen machen müssen.

SB und MZ sei Dank.

-> siehe auch letzter Beitrag!

Wenn die Spuren der langen und hochdosierten Prednisontherapie verblasst sind,
wenn ich wieder schlafen kann,
wenn die verschiedenen B-Vitamine wieder im Lot sind
und
ich mich regelmässig sportlich betätigen kann,
werde ich wieder ich selbst sein können.
Und wenn ich wieder ich selbst sein kann,
werde ich stolz sein darauf,
wie ich mit
der Diagnose,
der Krankheit
und
allem, was sie mit sich gebracht hat,
umgegangen bin:
nämlich ohne viel zu sagen,
ohne mir viel anmerken zu lassen.
Dann werde ich erst richtig realisieren, was ich geleistet habe.

Und den Blog weiterschreiben.
Damit es so bleiben kann:
damit ich mir weiterhin nicht viel anmerken lasse
und
nicht viel darüber rede.
Damit ich einen Ort habe,
wo ich loswerden kann,
was ich loswerden muss.

Wenn die Nieren nicht optimal funktionieren,
kann es zu Herzrhythmusstörungen kommen;
wenn der Nährstoffhaushalt durcheinander gerät,
ebenfalls;
wenn man nach über einem Jahr wieder Sport treiben kann,
dann eben auch.
Jeder
kleine,
kleinere,
grössere
und
grosse
Mosaikstein
im Leben mit chronischen Krankheiten
zieht eine Folge nach sich.
Und die Folge eine weitere Folge.
Und die weitere Folge wiederum eine Folge.
Und diese Folge eine andere Folge.

Das macht alles
so sehr komplex,
kompliziert
und
bisweilen schwierig.
Und Unbetroffene ahnen nichts von diesen Folgen der Folgen der Folgen…
Es geht immer weiter, es hört nie auf…

Pia hat Naila einen Rucksack und schöne Kleider ihrer etwas älteren Enkelin geschenkt.
Naila schwebt im siebten Himmel.
Taieb hat mit Yannik und Rahel zusammen „Guetsli“ (Plätzchen) gebacken: kleine Schnecken aus hellem und dunklem Teig.

Jetzt ist er im Fussball und Naila in der Mädchenriege.
So habe ich noch Zeit zum Singen.
„Falling rain“.

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