Vergessen?

Was für ein Tag: zum ersten Mal seit einem Jahr wieder Sport getrieben!

Zum ersten Mal seit einem Jahr wieder auf den Hometrainer gestiegen, zum ersten Mal wieder zu Musik eine gute halbe Stunde darauf gefahren. Wobei gefahren eigentlich nicht stimmt, ich bin ja nicht wirklich vorwärts gekommen. Dafür kann ich Musik dazu laufen lassen – zum ersten Mal die Songs aus „A better world“.

Das Album eignet sich gut für meine Situation; zwischen den schnelleren Songs kommen ruhigere: ein für mich denkwürdiger Moment, als ich begann; ein für mich denkwürdiger Moment, als ich aufhörte. Die Tatsache, dass ich ein Jahr lang keinen Sport treiben konnte, dass ich nicht zum ersten Mal in dieser Situation bin, wo meine Kondition sich auf dem Nullpunkt befindet, ist nur einer von vielen kleineren und grösseren Mosaikstein(ch)en im Mosaik eines Lebens mit einer chronischen Krankheit.

Bei mir geht es nie um Marathon- oder Triathlonzeiten, und wie schon einmal erwähnt, sind Gespräche darüber für mich Gespräche aus einer anderen, fremden Welt. Ausgesetzt bin ich ihnen ab und zu; einfach ist das für mich nie:

Ich bin erleichtert, dass ich die gute halbe Stunde auf dem Hometrainer noch schaffe und sogar Spass dabei habe. Ich bin erleichtert, dass die Gelenke nur noch am Morgen beim Liegen schmerzen und ich danach nichts mehr spüre. Ich bin froh, wenn ich die Anzahl Kilometer in der gleichen Zeit langsam, aber sicher steigern kann. Ich bin froh, wenn ich in ein paar Wochen manchmal 45 Minuten fahren und Spass dabei haben kann.

In meiner Vorstellung möchte ich dann noch einmal gewissen Leuten gegenübersitzen und die gleichen Prozedere durchspielen:

denen, die noch nie einen Prednison-Beipackzettel gelesen haben; denen, die noch nie einen gravierenden Mangel an B-Vitaminen aufwiesen; denen, die noch nie gezwungen waren, auf Sport und anderes, was guttut, zu verzichten; denen, die meinen, die Müdigkeit wegen chronischen Krankheiten sei die gleiche wie die Müdigkeit wegen zu viel Arbeit.

In meiner Vorstellung möchte ich auch sehen, wie diese Leute in verschiedenen Situationen, in denen ich war, reagiert hätten. Sie sollen hören, was Ärzte und Ärztinnen, die den Durchblick haben, fanden: nämlich, dass ich erstaunlich gefasst und ruhig sei.

Ein paar wenige Leute sollten zudem einmal für kurze Zeit nachempfinden können, wie ich mich wohl fühlte, wenn ein Theater gemacht wurde, weil jemand Arthrose in einem (einzigen) der kleinen Gelenke hat, dies sichtbar macht und darüber spricht, viel Aufmerksamkeit und Mitgefühl erntet und – was für ein Zufall (!) – die gleiche Person ist, die ständig andere beobachtet, zurechtweist, kontrolliert und alles protokolliert.

Nein, es geht mir nicht ums Vergleichen an sich; nein, ich möchte nichts abwerten; nein, ich möchte schon gar nicht Menschen, die mir nie etwas getan haben, angreifen oder verletzen. Aber ich will zu mir selbst ehrlich sein und damit auch zu allen, die meine Texte lesen. Ich will weder ihnen noch mir vormachen, dass alle Menschen gleich seien oder dass alle ihre Geschichten hätten, die jede Art von Verhalten verzeihen würden:

Unsere Geschichten haben wir alle. Sie mögen Neid, Hinterhältigkeit und Boshaftigkeit erklären, nicht aber verzeihen. Es gibt GrenzenGrenzen für Unwissen, Unverständnis und Unreife.

Darum vergleiche ich bewusst. Sonst hätte ich meinen Blog gar nicht eröffnen müssen: Zu viel habe ich erlebt, als dass ich nicht (grosse) Unterschiede sehen könnte und benennen wollte. In anderen Lebensbereichen versuche ich immer wieder, mich nicht in das ständige und übertriebene Vergleichen unserer Gesellschaft hineinziehen zu lassen: bei den Kindern zum Beispiel. Aber hier im Blog komme ich nicht darum herum. Und das ist auch gut so.

Am Freitag in Passchendaele waren meine Knieschmerzen nichts im Vergleich zum unfassbaren Leiden der Soldaten an der Westfront, zu den zerstörten und nicht gelebten Leben: nichts, gar nichts. Aber im Vergleich zu Arthrose – die notabene nicht entzündlich ist – in einem (einzigen) der kleinen Gelenke sind sie schlimmer. Und es sind nicht nur die Knie. Es sind auch die Fuss-, Hand- und Ellbogengelenke. Und die Augen. Und die Haut. Ach ja, und innere Organe…

Doch darum geht es letztlich nicht. Es geht darum, wie alleine, einsam und verloren man sich fühlt, wenn eine andere Person wegen einer vergleichsweise kleinen Angelegenheit so viel Aufmerksamkeit und so viel Mitgefühl erntet. Und wenn man immer wieder in solche Situationen gerät: weil man selbst nicht reden möchte, nicht reden kann. Und weil gewisse Leute ein unbeschreibliches Talent haben, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und Mitleid zu erzeugen – ein wirklich, wirklich unbeschreibliches Talent.

Man findet sie auch an anderen Arbeitsplätzen…

„Relativitätstheorie“ habe ich einen meiner Beiträge genannt und die Thematik bereits aufgegriffen. Ich werde sie weiterhin ab und zu aufgreifen: nicht als allgemeingültige Aussagen, sondern als ein Erfahrungsschatz an menschlichem Verhalten:

Zum Beispiel auch, wenn Ende November zwei Jahre seit der Operation der Nasenscheidewand vergangen sein werden und ich mich daran erinnern werde, dass eine Person – sie hat in meiner Erinnerung auffallend viel Ähnlichkeit mit oben gemeinter Person… – mir vorwarf, die (geplante) Operation nicht in den Ferien durchführen zu lassen Hals-Nasen-Ohren-Ärzte feiern keine Weihnachten (!) , mir die dreiwöchige Erholungszeit missgönnte, sich Sorgen machte, wer die Kosten für meinen Ausfall übernähme, und sich darüber mit einer anderen Kollegin als Verstärkung in einem E-Mail an die Schulleitung äusserte.

Sie hätten wissen müssen, dass ich eine (schwere) Autoimmunerkrankung habe. Sie hätten kapieren müssen, dass es um mehr als diese Operation ging. Sie hätten merken müssen, dass der Zeitpunkt, sich zurückzuhalten, definitiv gekommen war:

Die Operation war dringend notwendig; das Risiko, einen Krankheitsschub auszulösen, war nicht unbedeutend. Die dreiwöchige „Erholung“ hatte mit Erholung nicht viel zu tun; in meinem Fall wären nicht drei Wochen, sondern das Doppelte oder Dreifache angebracht gewesen. Aber ich sagte nichts, sondern versuchte es mit der üblichen „Erholungszeit“ und tat, als ob es mir gut ginge.

Darüber werde ich noch mehr schreiben. Wenn ich die Worte finde…

Was ein Krankheitsschub bedeutet, ist, so hoffe ich, in den bisherigen Beiträgen schon ein wenig zum Ausdruck gekommen. Es ist noch längst nicht alles, und es wird nie alles sein: kann gar nicht und soll auch nicht. Was solch abscheuliches menschliches Verhalten bedeutet, werde ich ebenfalls nie abschliessend beschreiben können.

SB und MZ – ihr habt euch so bodenlos abscheulich verhalten, dass es nie und nimmer Worte dafür geben wird. Wie armselig seid ihr denn, dass ihr das nötig hattet?!!? OMG…

Es sei halt ihre Wahrnehmung, dass die Weihnachtszeit anstrengend und der Zeitpunkt der Operation darum ungünstig gewählt sei…

Ihre Wahrnehmung?! Echt jetzt?!

Und meine Realität?!

Soll ich darüber lachen oder weinen? Oder soll ich die ganze Sache vergessen?

Nein, kann ich nicht.

Weil die Erkrankung auch nicht eines schönen Tages nicht mehr hier ist, weil sie für immer bleibt, weil sie unberechenbar ist, weil sie keine Rücksicht nimmt weder auf boshaftes Verhalten noch auf die Weihnachtszeit.

Darum kann ich nicht vergessen und schon gar nicht verzeihen.

Ich kann darüber weinen oder lachen.

Und ich kann mich freuen über die vielen Menschen, die ein grosses und gutes Herz haben. Über sie und mit ihnen.

Zum Beispiel Maryam.

Oder das französische Paar oder die Grossmutter und ihre Enkelin oder der junge Herr, die gestern mit uns im TGV im gleichen Abteil sassen.

Auch sie werde ich nie vergessen.

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