…, but this place is like hell.

„Yes, I’m well, but this place is like hell, they call it Passchendaele.“

Ein kurzer Auszug aus einem weniger bekannten und sehr berührenden Lied von Chris de Burgh, „This song for you“:

Ein Soldat, der vor der dritten Flandernschlacht seiner Freundin einen Liedtext schreibt. Die Operation bei Passchendaele hätte im Oktober 1917 den Krieg beenden sollen; stattdessen führte sie zu keinem Ergebnis, geringen Geländegewinnen, enormen Verlusten an Material und forderte Zehntausende von Soldatenleben.

Ihre Namen ertönen auf dem in Zonnebeke gelegenen „Tyne Cot Cemetery“ aus einem nicht sichtbaren Lautsprecher, ihre Namen und ihr Alter: 20, 24, 25, 27.

Was aus ihren nie gelebten Leben wohl geworden wäre, ob sie Väter geworden wären, welchen Beruf sie ausgeübt und was sie wohl alles gemacht hätten, welche Freuden und Sorgen sie gehabt hätten, wie alt sie wohl geworden wären…

(??????)

Passchendaele kenne ich durch diesen Song, über die Flandernschlachten habe ich mich durch diesen Song informiert.

Gestern besuchten wir also das umfangreiche Gedenkmuseum in Passchendaele, bevor wir weiter zum oben erwähnten Soldatenfriedhof in Zonnebeke fuhren:

Taieb war dabei; er interessiert sich schon seit längerem für die Weltkriege, ein Zeichen, dass er bereit dafür ist. Er war dann auch nicht zu bremsen mit den Fragen, und es war wieder einmal einer jener Tage, wo ich in die paradoxe Situation kam, dass mich seine nie versiegende Quelle an Fragen und kritischen Einwänden natürlich über alles freut und meine Seele berührt, dass ich mich selbst darin wiedererkenne und wiederfinde, dass ich aber bei der gefühlten 200. Frage nicht mehr überlegen, nicht mehr denken und nicht mehr gescheit antworten kann und die Geduld verliere, weil ich einfach zu müde bin und mich nach nichts mehr sehne als nach ein paar Minuten des einfach nur ruhigen Schauens.

Die Objekte haben sich in meine Erinnerung eingebrannt: die gnadenlosen Waffen, die schweren Rüstungen, die grässlichen Masken, die heimtückischen Minen, die viel zu schmalen Betten mit Gitterunterlage, die spärlichen Kleidungsstücke, die Scheren, Messer und Fläschchen.

Die Briefe, die die letzten sein sollten.

Die Spiele, die so gar nicht dazu passten: Spiele in der Freizeit, Spiele an der Front. Aber an der Front gibt es keine Freizeit; wer Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ gelesen hat, kann sich keine unbeschwerten Spiele und keine unbeschwerte Freizeit vorstellen.

Die Objekte haben sich in meine Erinnerung eingebrannt; die Informationstafeln habe ich alle fotografiert, um sie einmal zu Hause, wenn ich alleine bin, in Ruhe lesen und studieren zu können.

Hier in Belgien schlafe und esse ich gut; Maryam und Kamran kochen wunderbar. Von mir aus hätten wir auch Pizza nach Hause bestellen können; ich habe ihr gesagt, sie müsse wegen uns auf keinen Fall kochen, wenn sie zu müde sei. Aber sie sah das anders, und ich bin wohl ein dankbarer Gast. Nach allem, was war, schätze ich die Mühe und die Sorgfalt beim Kochen sowie die Frische der Zutaten noch viel mehr als früher. So, wie ich alles noch intensiver erlebe.

Wenn innere Organe entzündet sind, kommt fast alles durcheinander, was durcheinander kommen kann. Auch der Stoffwechsel, auch der Nährstoffhaushalt: Meine Blutwerte waren im Mai sehr schlecht – nicht zum ersten Mal, nicht zum letzten Mal. Und nein, das ist nicht pessimistisch, das ist einfach realistisch.

Im Umgang mit chronischen Krankheiten muss man realistisch sein. Die Entzündungswerte waren weit über die Obergrenze hinausgeschossen, die Hämoglobin-, Eisen-, Vitamin B12- und Vitamin D-Werte waren weit unter die Untergrenze hinabgefallen. Die Speicher waren vollständig entleert; so stand es auf dem Blatt, das ich erhielt. Auf dem Blatt, das Herr Kurmann nie angeschaut hat.

Damals wurde ich notfallmässig zu Infusionen aufgeboten und erhielt die doppelte der üblichen Menge. Der Rückflug von Heraklion nach Zürich wäre wohl glimpflicher für mich verlaufen, wenn ich die Infusionen vorher gehabt hätte. Aber das konnte niemand wissen. Dass die Prednison-Therapie im ersten Durchlauf nicht mehr anschlagen würde, konnte ebenfalls niemand wissen. Dass später das gleiche Präparat von einer anderen Firma doch noch zum erwünschten Erfolg führte, war eher rätselhaft: nicht im Kopf, keine Einbildung; nein, sondern schön zu sehen auf den Bildern des Inneren meines Körpers. Auf den Bildern, die Herr Kurmann nie angeschaut hat.

Solche Blutwerte sind nicht zu vergleichen mit Mangelerscheinungen aufgrund der Menstruation. Einmal – das muss auch im Mai gewesen sein – reagierte eine Person dahingehend. Sie meinte es wohl nicht böse, obwohl ich mir bei ihr nie sicher war, was sie mir suggerieren wollte:

Dass die Arbeit wichtiger sei? Dass man schon arbeiten könne, wenn man wolle, und nur krank sei, wenn man rund um die Uhr im Bett sei? Dass man kein guter Mensch sei, wenn man die Arbeit nicht vor alles stelle?

Vier Monate nachdem ich auf dem Heimweg von der Schule einen körperlichen Zusammenbruch gehabt hatte, weil ich viel zu lange für die Arbeit alles durchzuziehen versucht hatte!?

Ich weiss es nicht, hatte ihr gegenüber diesbezüglich jedoch immer zwiespältige Gefühle. Darum auch die Sache mit der Menstruation: Die habe ich nämlich auch. Sogar öfters als die meisten Frauen, weil ich einen kurzen Zyklus von 22 bis 24 Tagen habe. Aber darin liegt kein Problem. Es ist doch schön, die Menstruation zu haben. Sie gehört doch so sehr zum Frausein. Ihr Ausbleiben zeigte mir, dass ich ein Kind erwartete – ungeplant, aber nicht unerwünscht: der aufregendste Tag meines Lebens. Was für ein Geschenk! Bald ist es zehn Jahre her.

Ich kann mich doch nicht über die Menstruation beklagen. Dass sie Beschwerden verursachen kann, verstehe ich, aber die durch sie hervorgerufenen „Mängel“ sind weit entfernt von den Mängeln, die ich aufgrund einer Erkrankung manchmal habe. Dahingehende Reaktionen zeigen, dass das mein Gegenüber weit entfernt von mir ist; ich fühle mich in solchen Momenten alleine. Die zwiespältigen Gefühle damals wurden grösser.

Der achtmonatige Schub ist vorüber, es sieht nach einer Remission aus, die meisten Blutwerte sind in Ordnung. Eisen und Vitamin B12 muss ich trotzdem noch ungefähr zwei Monate lang einnehmen, damit die Speicher wieder richtig aufgefüllt werden können. Augen- und leichtere Gelenkentzündungen werde ich auch in der Remission haben. Und nein, das ist nicht pessimistisch, das ist einfach realistisch.

Als wir im Gedenkmuseum von Passchendaele die steilen Holztreppen in der amerikanischen Wohnung hinauf- und hinabstiegen, spürte ich die Kniegelenke. Die Entzündungen sind schmerzhaft, schädigen die Gelenke aber nicht. Wenn sie vorbei sind, ist das Gelenk wieder unversehrt. Darüber bin ich froh. Und überhaupt: Was sind meine Gelenkentzündungen im Vergleich zu dem unendlichen Schrecken und der Brutalität des Krieges, zu den zerstörten Leben der so jungen Soldaten, zu der Hoffnungslosigkeit, der Sinnlosigkeit?

Wie schon im letzten Text: Wir sollten viel weniger vergleichen, aber es gibt Fälle oder Situationen, wo man nicht darum herumkommt; ja, wo man es tun muss. Gestern in Passchendaele musste ich es tun.

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