Harmlos

Als wir letztes Mal nach Gent fuhren, hatte Grossbritannien soeben die EU verlassen: Brexit. Als wir gestern wieder hierhin fuhren, hatte Amerika soeben Donald Trump zum 45. Präsidenten gewählt. Ich frage mich, welche Steigerung noch möglich ist, wenn wir nächstes Mal hierhin kommen werden. Trotzdem genossen wir einen ausgezeichneten Rotwein und stiessen an: nicht auf die Wahl, sondern auf unsere Freundschaft.

Das Abendessen war köstlich, vor allem die verschiedenen Gemüse und der belgische Käse. Ich liebe Gemüse über alles und war zufrieden, dass Taieb zumindest die Karotten gerne hatte und alle, die ich ihm aus den anderen Gemüsestückchen heraussuchte, ass. Maryam war ich dankbar, dass sie sich solche Mühe gegeben und ein Abendessen zubereitet hatte. Das hatte ich überhaupt nicht erwartet: erstens von der Uhrzeit her, um die wir eintrafen, und zweitens, weil sie gesundheitlich noch viel mehr zu tragen hat als ich:

An sich bin ich gegen ständiges und übertriebenes Vergleichen, aber es gibt Situationen oder Fälle, wo man nicht darum herumkommt; ja, wo man es sogar tun muss.

Wir schliefen lange, und ich weiss nicht, wann ich das letzte Mal so gut geschlafen habe. Als ich aufstand, konnte ich mich nicht erinnern, wann ich mich zum letzten Mal so erholt gefühlt hatte. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor…

Bald jähren sich die Tage, an denen ich merkte, dass wohl ein weiterer Schub bevorstände; bald jähren sich Erfahrungen, die im Moment, als ich sie machte, einfach nur schrecklich waren, die mich aber letztlich noch stärker werden liessen; bald jähren sich die Wochen, wo ich versucht habe, um alles in der Welt weiterzuarbeiten, obwohl es verantwortungslos war – mir selbst und meiner Familie gegenüber.

Ich weiss, dass ich in den nächsten Monaten die Erlebnisse noch einmal durchleben werde, doch ich weiss auch, dass ich es aushalten und ihnen standhalten werde: aushalten, ausdrücken und darum weiter daran wachsen werde. Ich weiss, dass es nicht immer einfach sein wird, doch ich weiss auch, dass ich nicht mehr schweige. Ich weiss, dass einige Menschen mir Unrecht taten, doch ich weiss auch, dass viele Menschen mir auf ihre ganz eigene und wunderbare Weise geholfen haben:

Ich habe beschlossen, ihnen zu Weihnachten einen Brief zu schreiben, und habe festgestellt, dass es so viele sind, dass ich „nur“ einen Brief verfassen und mich bemühen werde, ihn dennoch persönlich und herzlich zu gestalten. Zudem habe ich zwanzig Alben von „A better world“ bestellt, die ich mit dem Brief zusammen verschenken möchte.

Ja, bald jähren sich die schlimmsten zwei Monate und nachfolgend die bisher schwierigste Zeit in meinem Leben. Zum Auslöser des letzten Schubs gibt es gewisse Vermutungen, nicht nur von mir selbst, sondern auch seitens der Ärzte und Ärztinnen. Im Beitrag mit dem Titel „Vielleicht…“ findet sich eine Andeutung…

Und vielleicht ist hier auch der Zeitpunkt für eine ergänzende Erklärung: Wie erwähnt, besteht für Autoimmunerkrankungen eine genetische Veranlagung. Damit sie ein erstes Mal ausgelöst werden, braucht es eine (grössere) Einwirkung von aussen, oft eine Schwangerschaft, ein anderes hormonelles „Grossereignis“ oder eine Infektion. Wenn sie aber einmal ausgelöst worden sind und der erste Schub überstanden ist, können auch kleinere physische oder psychische Stressfaktoren einen erneuten Schub auslösen.

Deshalb ist es für mich (und andere Betroffene) sehr belastend, wenn eine Arbeitskollegin sich mit der Polizei verwechselt und nichts Besseres zu tun zu hat, als kleinlichst und peinlichst genau zu registrieren, wer wann wie lange anwesend ist. Und eben, für diejenigen, die sich erinnern: Ich war weder im Fitness noch im Wellness; ich war in einer Arztpraxis unter kurzer Vollnarkose. – Um ein einziges Beispiel zu nennen.

Wie auch immer: Aus diesen Erfahrungen heraus ist den Menschen gegenüber, die mir auf ihre eigene und besondere Art geholfen haben, eine umso intensivere Dankbarkeit entstanden: Danke, Pia, dass Naila gestern bei dir essen und den Nachmittag mit dir verbringen durfte; danke, Karina, dass du mir so schnell jemanden vermittelt hast, der mir mit dem Transferieren des Blogs helfen wird. Es bedeutet mir viel; es sind diese kleinen Dinge, für die ich manchmal keine Zeit oder keine Energie mehr habe. Darum auch danke, Maryam, für das Kochen.

Der Nährstoffhaushalt ist bei mir aus dem Gleichgewicht geraten, da der Stoffwechsel bei Entzündungen innerer Organe in Mitleidenschaft gezogen wird. Das hat zu den erwähnen Herzrhythmusstörungen geführt. Sie sind harmlos. Ja, Herr Kurmann, da hatten Sie recht – das einzige Mal recht: Ein zusätzlicher Herzschlag, eine Extrasystole, ist tatsächlich meistens harmlos. Für Sie, Herr Kurmann, ist jedoch alles harmlos, alles halb so wild, alles durchaus erträglich. Weil es so sein muss, weil Sie kein anderes Ziel verfolgen und weil Sie selbst nicht betroffen sind.

Harmlos, ja, aber unangenehm und beklemmend. Harmlos, ja, aber nur die Spitze der Spitze des Eisbergs. Harmlos, ja, aber wie so vieles ein Erinnern daran, nicht gesund zu sein.

Gestern Abend in Paris beim Wechseln vom Gare de Lyon zum Gare du Nord und mit einem neunjährigen Kind an der Seite zu einer gewissen inneren Anspannung führend. Oft hilft Essen oder Trinken. Die Quiche Lorraine half.

Heute Abend ist es wieder passiert. Trinken hat geholfen. Und jetzt riecht es erneut köstlich von unten herauf. Maryam hat gekocht, und Kamran wartet schon lange mit einem Glas Rotwein auf mich. Darum wünsche ich jetzt allen einen erholsamen Abend. Zum Wohl!

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