Der zweite Strich

Mein gestriger Beitrag hat offenbar eine ehemalige Arbeitskollegin (B. R.) dazu veranlasst, mich als „Facebook-Freundin“ zu löschen. Das macht nichts & das wird mich schon gar nicht davon abhalten, für Gerechtigkeit einzustehen. Es war ja nicht nur die Sache mit der Operation & meiner damit verbundenen Abwesenheit. Und es war längst nicht nur gegen mich, sondern gegen etliche weitere Kollegen & Kolleginnen.

Sie hatten die Energie, sich zu wehren.

Ich hatte sie nicht.

Mit einer (schweren) chronischen Erkrankung hat man sie eigentlich nie; jedenfalls nicht für Angelegenheiten, die nur noch (viel) mehr belasten. Für solche hat man sie nie. Man hat sie vielleicht für befreiende & beglückende Unternehmungen. Ja, dafür habe ich sie zum Glück & bin jedes Mal dankbar, dass ich sie habe.

Einfach ist es oft auch dann nicht. Schon oft hätte ich ein Essen oder eine andere Verabredung am liebsten abgesagt bzw. verschoben, weil ich so müde war, dass ich eigentlich nur einen Wunsch hatte: schlafen zu können. Meistens ging ich dann trotzdem hin & war danach froh darüber, weil der Abend ein schöner gewesen war, weil Essen & Reden mit Freundinnen ein Stück Glück, weil Konzerte, Singen & Tanzen Freiheit bedeuten.

Und weil ich dabei – wie auch früher schon. . . – Erfahrungen machen durfte, die einzigartig sind.

Wenn man mutig ist, die Dinge beim Namen nennt & sich von den Predigern & Predigerinnen der verschiedenen Wahrnehmungen nicht (mehr) verunsichern lässt, macht man sich manchmal unbeliebt. Das ist klar, aber auch das macht mir nichts (mehr) aus.
Die ehemalige Arbeitskollegin B. R., die mich gestern Abend auf Facebook als „Freundin“ löschte, ist keine der beiden gestern gemeinten. Diese (S. B. & M. Z.) sind meines Wissens nicht auf Facebook, und wenn doch, wäre ich nicht mit ihnen „befreundet“ (gewesen). Dazu bin ich zu ehrlich.
Doch sie (B. R.) weiss Bescheid über die von mir beschriebenen Tatsachen, hat aber wohl keine Ahnung, wie es für mich war & was für mich auf dem Spiel stand.

Manche denken wohl, ich hätte die Sache nach zwei Jahren vergessen sollen.
Nein, ich kann sie nicht vergessen.
Weil das Leben mit einer chronischen Krankheit ein anderes (Anspielung für B. R.: kein perfektes!) ist, weil die menschliche Unreife ein für mich unerträgliches Ausmass angenommen hatte, weil ich die Krankheit auch nicht einfach vergessen kann – auch nicht nach zwei Jahren, auch nicht nach fünf Jahren, auch nicht nach zehn Jahren. Gar nie. Sie geht dann weg, wenn ich sterbe. So simpel ist das.

So simpel & so kompliziert, so einfach & so schwierig:
Ich kann gut damit umgehen & bin darauf fast ein bisschen stolz. Aber ich brauche keine Leute, die mir zusätzliche & unnötige Hindernisse in den Weg legen, anstatt einmal gründlich & kompromisslos bei sich selbst zu schauen. Sobald die „geeigneten Opfer“ sich zu äussern wagen, sind sie dann plötzlich die Täter oder Täterinnen, denen überdies eine einseitige Sichtweise vorgeworfen wird.

Und wie ist denn die andere Sichtweise? Zweiseitig? Dreidimensional? Oder sogar vielseitig?
Eben.
Wir haben alle „nur“ unsere eigene Wahrnehmungs- & Sichtweise. Das ist ja klar, dazu sind keine Belehrungen notwendig.
Es gibt übrigens ein paar spannende Bücher dazu, und ich frage mich, ob die Leute, die jedes Mal die verschiedenen Wahrnehmungen bemühen, wenn sie den Tatsachen nicht ins Gesicht sehen wollen, diese Bücher überhaupt kennen, geschweige denn einmal darin gelesen haben. (Höchstwahrscheinlich ja nicht – auch klar.)

Es geht nicht um verschiedene Wahrnehmungen, wenn Unrecht geschieht. Belegbares Unrecht notabene. Es geht nicht um verschiedene Wahrnehmungen, wenn Bilder zeigen, dass innere Organe stark entzündet sind. Es geht nicht um verschiedene Wahrnehmungen, wenn diese den Dienst zu versagen drohen & die Schmerzen kaum auszuhalten sind. Es geht nicht um verschiedene Wahrnehmungen, wenn die Blutwerte alarmierend sind & Zähneputzen zu einer Anstrengung wird. Es geht nicht um verschiedene Wahrnehmungen, wenn Blut fliesst. Es geht um Leiden. Es geht um Leben.

Heute Morgen hätte ich Benzin tanken, einkaufen gehen & ein paar administrative Arbeiten erledigen wollen. Das war mein Plan, und ich war schon fast unterwegs, aber ich hatte keine Chance. Das ist der Unterschied zwischen den Arten von Müdigkeit, die ich von früher her kenne, und der Müdigkeit aufgrund von chronischen Krankheiten oder starken Medikamenten: Erstere sind überwindbar, letztere nicht. Keine Chance.

Ich glaube zwar, dass der Rhythmus sich wieder einpendeln wird & dass ich nie mehr Prednison anfassen werde, aber ich erwachte um halb vier Uhr morgens, weil es so hell war. Der grüne Lichtschein kam von den Weihnachtsbeleuchtungen, die T. überall montiert hat. Da mein Körper immer noch auf „in der Nacht wach sein“ eingestellt ist, konnte ich nicht mehr einschlafen, was meine Pläne für den Morgen durcheinanderbrachte.

Der Nachmittag war dann sehr schön. Ich traf mich mit Monika in einer Bäckerei mit Café in unserem Wohnort. Monika ist die Mutter von Lara, die mit T. zur Schule geht. Wir hatten es gemütlich und sie stellte fest, was verschiedene Personen festgestellt haben: dass ich gelassen & locker bin – insbesondere in Anbetracht aller mit der Krankheit verbundenen Herausforderungen…

Dass sie mir das so sagen konnte, hat mich gefreut. Dass ich vielem gegenüber gefasst & gelassen bin, können Nicht-Betroffene schwer abschätzen. Darum ist es besonders schön, wenn ich doch immer wieder auf Menschen treffe, die das spüren & äussern können. Die Grenzerfahrungen bekommen dadurch einen Sinn.

Das auf dem Beitragsbild abgebildete grüne Schokoladeherz ist von Monika. Das blaue hatten wir bereits zu Hause; ich hatte es für T. gekauft. Denn: Heute vor zehn Jahren führte ich meinen ersten Schwangerschaftstest durch. Der zweite Strich liess sich ein paar Minuten Zeit, aber dann war er unverkennbar zu sehen. Da ich meinen Augen doch nicht traute, weckte ich meine Mutter, bei der ich übernachtet hatte, weil ich mit ihrem Auto zur Arbeit fahren wollte. Sie sah den zweiten Strich auch, verstand nicht, warum ich ihre Bestätigung brauchte, und freute sich gleichzeitig.

Es war sehr früh morgens, es war halb vier. Auch damals konnte ich nicht schlafen, weil meine Menstruation seit einer Woche überfällig war. T. kam ungeplant & eher unerwartet, aber nicht unerwünscht. Ich schrieb meinem Mann eine Nachricht per SMS. Er arbeitete damals noch in Tunesien, im Hotel, in dem wir uns kennengelernt hatten. Wir führten eine sehr intensive Fernbeziehung; ich habe kaum mehr zählbare Stempel von Tunesien & Marokko in meinem Pass, und er konnte zweimal für drei Monate in die Schweiz kommen.

Kurz bevor er damals am 8. oder 9. November zurückkehren musste, war es also passiert. Vielleicht in der Nacht nach der mündlichen Prüfung für das Höhere Lehramt. Diese war nämlich sehr gut gelaufen und ich war wohl sehr entspannt… 🙂
Vielleicht auch darum hielt ich den Abschied damals am Flughafen in Kloten kaum noch aus & hatte das Gefühl, es würde mich zerreissen. Es war wohl ungefähr der 30. Abschied am Flughafen – meistens in Tunis oder Casablanca – und ich spürte, dass ich es nicht mehr aushielt & es so nicht mehr weitergehen konnte.
Vielleicht darum…

Wie auch immer: Das blaue Herz ist für T., das grüne für mich. Danke, Monika.

P. S.: Die Antwort per SMS von meinem Mann war übrigens: „Tu ne dois pas être agitée, je m‘occupe de lui.“
💛

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