„Sie haben eine schwere organische Erkrankung.
Warum mussten Sie überhaupt zu diesem Herrn Kurmann?
Das ist unverständlich.“
Ja, das ist sie: die Frage aller Fragen
im Zusammenhang mit
Herrn Kurmann
dem Besuch bei ihm
und
dem Bericht.
Das ist sie: die Frage, die ich bis jetzt nicht (öffentlich) zu stellen wagte.
Das ist sie: die Frage, die der Ursprung einer grossen Verletzung ist.
Weil es im Kanton Zürich nach drei oder vier Monaten so üblich ist.
Darum?
Darum!
Oder vielleicht doch nicht nur darum?
Vielleicht auch, weil es tatsächlich Leute gibt, die Krankheit vortäuschen und gleich gruppenweise und systematisch die Versicherungen zu betrügen versuchen?
(Das weiss ich übrigens von Ärzten.)
Vielleicht auch, weil ich halt (sehr) selten krank aussah?
Vielleicht auch, weil ich so vieles so gut überspielte?
Fragen ohne Antworten.
Weil diejenigen, die sie geben könnten,
nicht ehrlich antworten wollen oder können.
Und weil sie wohl schon wissen, dass sie keine Chance hätten, wenn es darauf ankäme.
Es ist mein Glück im Unglück,
dass die Erkrankung, um die es geht,
eine schwere ist und eine organische ist
und dass auch ein Herr Kurmann,
von dessen „Sorte“ es wohl noch viele gibt
und der nicht weiss, worüber er schreibt,
diese Tatsachen nicht leugnen könnte.
„Die sitzen an jeder Ecke“, sagte mein Internist.
„Vor allem bei Versicherungen und Behörden
– ein täglicher Kampf am Telefon“, fuhr er fort.
Für einen Moment sprachlos hörte ich zu.
Wie meine Hausärztin sagte auch er,
dass viele dieser Versicherungsärzte in der medizinischen Welt durchgefallen seien,
dass sie es gar nicht aushalten würden, in einer Praxis oder einem Spital zu arbeiten,
dass sie so noch irgendwo untergebracht werden konnten.
Die Zeit bis zur Pensionierung absitzen und Berichte verfassen, um die Versicherungen, die nicht zahlen wollen, damit zu speisen.
Was für ein Hohn.
„Wenn Sie etwas Schriftliches brauchen, melden Sie sich. Dann schreibe ich, was Sache ist. Für wen oder was auch immer.“
Ich weiss in solchen Momenten jeweils nicht, wie ich mich fühlen soll.
Gut, weil ich den „Triumph“ letztlich in der Hand habe?
Schlecht, weil andere Menschen genauso leiden, aber vielleicht keine organische, sondern eine psychische Krankheit und darum keinen „Triumph“ in der Hand haben?
Schlecht, weil so vieles falsch läuft in dem ganzen System?
Gut, weil ich mich zu wehren weiss?
Ich weiss es nicht…
Und ich weiss ebenfalls (noch) nicht, ob ich die Geschichte weiterziehe oder nicht.
Mein Arzt findet den Weg mit dem Artikel in der Zeitschrift an sich gut.
Damit Wahrheiten ans Licht kommen.
Damit Bewegung in die starre und menschenverachtende Bürokratie kommt.
Damit die Öffentlichkeit erfährt, was es mit dem Begriff „Vertrauensarzt“ auf sich hat.
Ja, er findet den Weg an sich gut.
Andererseits berichtete er mir von eigenen Erfahrungen. Er habe sich schon in Dinge verbissen, wo es sich nicht gelohnt habe. Aber für Gerechtigkeit zu kämpfen, könne sich schon lohnen.
So oder so muss ich ja auch schauen, dass die aufreibende Sache nicht gleich wieder einen Krankheitsschub auslöst.
Auch darum ist die oben zitierte Frage, die der Internist so erleichternd klar formulierte, die Frage aller Fragen in diesem Zusammenhang.
Auch darum geht sie mir ans Lebendige
– nicht nur im übertragenen, sondern auch im wörtlichen Sinn.
Auch darum kann ich
die kleinliche Sturheit
und
die sture Kleinlichkeit
nicht vergessen:
Es ging für mich um alles,
es ging an jenem Samstag Ende Januar um mein Leben.
Mich interessiert nicht,
was im Kanton Zürich üblich ist.
Mich interessiert nicht,
welche Zeitspannen und Fristen gelten.
Mich interessiert,
ob meine Kinder mit mir oder ohne mich aufwachsen.
Darum
lernte ich von einem Tag auf den anderen,
mich abzugrenzen.
Es tut mir leid für diejenigen,
die mir das übelnahmen
und
vielleicht immer noch übelnehmen.
Wir leben nicht in der gleichen Welt.
Bevor ich zum Arzt ging,
war ich in einem Geschäft für Innendekorationen und
schaute mich nach ein paar kleineren, handgewobenen und farblich passenden Teppichen um,
die unsere Eichenparkettböden,
die schön, aber heikel sind,
schonen sollen.
Die Dame, die mich bediente, nahm einen hervor, legte ihn auf die Theke und erklärte mir allerlei. Ich merkte sofort, dass sie ihr Fach versteht. Das fasziniert mich immer & ich hörte ihr gerne zu.
Gleichzeitig überlegte ich mir, was sie wohl für eine Geschichte hat. Ob sie Kinder hat zum Beispiel. Wie sie heissen könnten. Wie sie aussehen könnten. Wie alt diese sein könnten.
Da erzählte sie mir,
sie habe auch einen solchen Teppich gehabt,
ihn aber,
als sie umzog,
ihrer Tochter geschenkt.
Ob sie verheiratet sei…
Oder geschieden…
Oder verwitwet…
Ich schaute auf ihre Hände; einen Ring trug sie nicht. Das heisst zwar nicht viel und ich weiss nicht, warum ich mir so gut wie sicher war, dass sie geschieden sei. Etwas in ihrem Blick unter den schwarz gefärbten, kurzen Haaren vielleicht…
–
Am Empfang beim Arzt
fing ich nicht wie am Dienstag bei der Hausärztin an zu weinen,
sondern bekam die Antwort auf eine am anderen Ende der Telefonlinie gestellte Frage mit.
Ich hörte die Antwort
und
kannte die Frage.
Ich überlegte mir,
wer die Person am anderen Ende der Linie wohl sei…
Ein Mann?
Eine Frau?
Wohl eher eine Frau
– Frauen sind von Autoimmunerkrankungen weitaus häufiger betroffen als Männer.
Jung?
Alt?
Wohl eher jünger
– die Frage liess auf einen erstmaligen grossen Untersuch schliessen, was meistens in noch eher jüngeren Jahren der Fall ist.
Alleine?
Mit Partner oder Familie?
Aufgeregt, verzweifelt oder gelassen?
Letzteres eher nicht, da die Frage, die gestellt worden sein musste, auf Probleme schliessen liess. Denen gegenüber man natürlich gelassen sein kann. Jedoch nicht vor dem erstmaligen Untersuch.
Wenn es denn überhaupt so war.
Wenn es denn überhaupt mehr oder weniger so war
wie im Kurzfilm,
der in meinem Kopf ablief,
nachdem ich die Antwort auf die irgendwo und von irgendwem gestellte Frage gehört hatte.
Wenn es denn überhaupt so war.
Nein, gelassen wohl eher nicht.
Das braucht Zeit,
das kommt später.
Ich wünsche mir
für die Person am anderen Ende der Leitung
Durchhaltevermögen,
Geduld
und (für später)
Gelassenheit.
Als ich die Praxis verliess, hörte ich, dass die nächste Patientin dem Arzt nach der Begrüssung sagte, es gehe ihr nicht so gut. Ich hoffe für sie, dass er ihr helfen konnte. In guten Händen ist sie auf jeden Fall.
Ich habe ihm erzählt, dass Naila und ich für drei Tage nach München fahren würden, um Freunde zu besuchen und die Weihnachtsmärkte unsicher zu machen. Dabei stellte sich heraus, dass er zehn Jahre dort gelebt und studiert hat, ursprünglich aber aus dem Saarland kommt. Er freute sich, dass ich es kenne.
Sehr schön,
sehr grün,
Einflüsse aus fünf Ländern,
architektonisch sofort sichtbar,
kulinarisch wohl auch, wenn es denn nach dem Konzert in Losheim am See noch etwas zu essen gegeben hätte…
Eine Story für sich.
Wie die vergessenen Tickets…
Und das „happy end“.
Nur leider ohne Essen. 😉