Die menschliche Seite

Heute Abend singt & spielt Elton John im Hallenstadion – und ich bin krank. Krank im traditionellen Sinn. Ich schreibe bewusst „und“ (ich bin krank) und nicht „aber“. Denn ich werde trotzdem hingehen.

Den Termin, den ich heute Morgen um 9 Uhr in Zürich gehabt hätte, konnte ich zum Glück problemlos auf nächsten Mittwochmorgen verschieben. So konnte ich nach dem Frühstück mit den Kindern, das heute aus unseren selbstgebackenen „Grittibänzen“ bestand, drei Stunden schlafen gehen, was nach sieben Stunden Schlaf in der Nacht (ein Rekord & Erfolg für dieses Jahr, das bald zu Ende geht…) dazu führte, dass ich mich trotz Erkältung, Hals-, Schluck- & Kopfschmerzen überraschend ausgeruht & motiviert fühl(t)e.

Den Termin von heute Morgen konnte ich verschieben, das Konzert lässt sich nicht verschieben. Elton John wird nächsten März 70; meine Mutter, mit der ich hingehe, wird einen Tag nach ihm 81, was man ihr jedoch nicht ansieht.
Gerne hätte ich noch ein paar Liedtexte gelesen & studiert, aber dazu kam ich nicht (mehr), da ich schon am Dienstagabend merkte, dass ich etwas erwischt hatte. Von den Kindern wahrscheinlich; sie husten schon seit längerem, sind sonst aber fit & munter.

Früher konnten alle um mich herum krank sein; ich wurde nicht krank. Und wenn ich erkältet war, machte mir das nichts aus. Ich ging immer zur Arbeit & traute mich, bis ich 37 war, nicht einmal anzurufen um zu sagen, ich sei krank. Obwohl es damals schon gute Gründe dafür gegeben hätte, da die Autoimmunerkrankung ausgebrochen war, als ich 35 war. Nein, wegen Erkältungen fehlte ich nie; zu (viel) mehr kam es selten. Und wenn es dazu kam, ging ich trotzdem arbeiten.

Das hat sich leider auch geändert – deutlich sogar. Die Immunsuppressiva haben, wie der Name besagt, das Immunsystem unterdrückt, damit es nicht mehr so heftig gegen körpereigenes Gewebe vorgeht. Aber die Unterdrückung führt zu einer allgemeinen Schwächung; es arbeitet dann eben generell auf Sparflamme. Deshalb kann ich jetzt im Gegensatz zu früher so gut wie sicher sein, dass ich mich anstecke, wenn jemand im Umfeld etwas hat. So auch jetzt wieder… Das ist nicht weiter schlimm; es ist einfach eine zusätzliche Erschwernis, wovon es, wie schon einige Male angedeutet oder ausgeführt, eben einige gibt.

Zudem startet man, wenn man eine chronische Erkrankung hat, auf einem ganz anderen Level, als wenn man an sich gesund ist. Jede (gesundheitliche) Herausforderung ist um ein Vielfaches erschwerender und man steht ihr immer schwächer gegenüber, als wenn man an sich gesund ist.
Beispielsweise kenne ich das allgemeine Krankheitsgefühl, das ich seit Dienstagabend habe, sowie das Frieren, auch wenn es draussen gar nicht kalt ist, sowieso. Das habe ich ab & zu: auch eine (unsichtbare) Begleiterscheinung von chronischen Krankheiten & starken Medikationen. Wenn ich krank bin, also krank im traditionellen Sinn, treten sie noch verstärkt auf.

T. hat mir erzählt, die Grossmutter seines Lehrers sei gestorben. (Er hat eine Hauptlehrerin & einen Teamteaching-Lehrer.) Sie wäre am 23. Dezember 95 geworden. Sein Lehrer habe die letzte Nacht mit ihr verbracht & ihren letzten Atemzug gesehen, hat T. mir vorhin erzählt. Das hat mich sehr berührt, sodass ich gar nichts mehr dazu sagen konnte.

T. merkte es, blieb ruhig stehen & machte sich dann ruhig davon: zu Yannik, der schon zweimal nach ihm fragen gekommen war & mit grossen & glänzenden Augen die beiden Weihnachtsgugelhöpfchen, die ich in „unserer“ Bäckerei gekauft hatte, mitnahm & zu Hause verspeiste. T. verschwand also zu Yannik, N. kam von ihrer Schulfreundin Anthea zurück. Und ich überlegte mir, wie T.s Lehrer sich wohl gefühlt hatte während der letzten Nacht & heute im Schulzimmer…

Am Dienstag überlegte ich mir, was der Anwalt, dem ich für eine Beratung gegenübersass, wohl für eine Geschichte habe. Er war mir sehr sympathisch: ruhig, aufmerksam & kompetent – als Fachmann wie als Mensch.
Ich brauche immer beides, um jemanden in seinem oder ihrem Beruf ernst nehmen zu können. Berufliche Kompetenz genügt für mich nicht, die menschliche Komponente ist ebenso wichtig; in Berufen, wo Menschen eine zentrale Rolle spielen, sowieso.
Es dürfte nicht sein, dass man bei einem Anwalt nicht einmal den Satz zu Ende sprechen muss, damit er versteht, wie es einem – im Schulzimmer vor 20 Jugendlichen & ernsthaft krank – ergangen sein muss, dass hingegen ein „Vertrauensarzt“ kaum etwas versteht: auf der fachlichen Ebene nicht & auf der menschlichen schon gar nicht.

Dass „schwarze Schafe“ gefunden werden, ist gut – wenn sie denn gefunden werden.
Dass hingegen Leute, die sich absolut unseriös oder gar nicht vorbereiten & einem gleichzeitig wie ein psychologischer Problemfall vorkommen, über die Zukunft anderer entscheiden, dürfte niemals sein. Das ist so falsch – und wir müssten uns viel öfter fragen, wo bei uns die Korruption anfängt & wo sie aufhört.
Mich interessieren ehrliche & menschlich kompetente Menschen – wie zum Beispiel dieser Anwalt. Er war ehrlich freundlich; das spürte ich schnell, das merkte ich an verschiedenen Verhaltensweisen & Aussagen. Auch darum überlegte ich mir wohl, was er für eine Geschichte habe & ob er glücklich sei. Er wirkte schon so, aber eben: Das heisst nicht viel.

Gestern berichtete ich ein wenig über die Begleitungen der Sprachaufenthalte in Oxford, das heisst vor allem über den Oktober 2012 & über den heftigen Ausbruch meiner Erkrankung. Die Diagnose hatte ich damals noch nicht, die kam erst später. Deshalb wusste ich auch nicht, was los war & was ich tun könnte.
Es war schon im Juli sehr schlimm gewesen und ich musste nach Bruck (Salzburgerland, Österreich) wo wir zwei Wochen in den Sommerferien waren, zum Arzt fahren. Der fand aber nicht heraus, was los war, und gab mir Medikamente gegen etwas, was ich nicht hatte. Das Gleiche passierte später bei einer Ärztin in Winterthur sowie bei weiteren Ärzten.
Ich mache niemandem einen Vorwurf; es ist eine seltene Erkrankung, die (längst) nicht alle Ärzte & Ärztinnen kennen. Auch Herr K. nicht. Der es aber wohl kaum zugeben würde. Und ja, ich bereue schon ein bisschen, dass ich ihn nicht ausgefragt & ausgequetscht habe…

Die menschliche Seite ist vielleicht sogar in jedem Fall die wichtigste. Als ich am Dienstagnachmittag vergangener Woche „notfallmässig“ bei meiner Hausärztin war & wir schon fast so weit waren, dass auch ich über den Bericht lachen konnte, vibrierte mein Handy. Sie hörte es, obwohl es wirklich sehr leise war, und fragte mich, ob ich antworten wolle.

Es war T. Er war nach Hause gekommen & wusste nicht, wo ich war. Ich erklärte es ihm kurz. Aber seine Sorge war eine ganz andere: ob er das kleinere der beiden Geschenke, die mein Mann schon gekauft & nicht versteckt hatte, aufmachen dürfe. Ich sagte nein. Er verstand aber ja. Ich sagte nein und dass ich gleich kommen würde, beendete den Anruf & erzählte der Ärztin, weil sie gefragt hatte, ob dies mein Sohn gewesen sei, was der Grund für seinen Anruf gewesen sei. Dann mussten wir auch beide lachen und sie fragte mich noch, wie alt er sei, und hatte, als ich mit „neun“ antwortete, absolutes Verständnis für seine grosse Sorge.

Jetzt erinnere ich mich wieder an ihren Rat: „Vergessen Sie Herrn K., planen Sie Ihr neues Leben.“ Und eine weitere Liedzeile aus meinem gestern erwähnten Traum tauchte auf:

„The future is here, waiting to take you away.“

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert