Doppelleben

Ja, der gestrige Tag hätte besser anfangen und besser weitergehen, nicht aber besser enden können. Auch wenn ich mich sprachlich wohl ganz gut ausdrücken kann, kann ich diese Bühnenpräsenz, diese Songpräsenz, die Emotionalität in Songs über Krieg, Zerstörung, Trennung, Verlust, Flucht und Verlorensein, dann wiederum die Leichtigkeit in Songs über das Verliebtsein oder eine glückliche Liebe nicht wirklich beschreiben. Echt nicht.

Ich kann nicht, ich würde schon wollen.
Vielleicht gelingt es mir ja einmal, wenn ich wieder mehr geschlafen habe – wer weiss.
Vorläufig bleibt die Erfahrung in mir und ich weiss, dass sie sich in die zum Glück lange Reihe von intensiven Erfahrungen einreiht, die mir in schwierigen Zeiten oder in beängstigenden Momenten helfen, die mich so viel reicher machen, als Ungerechtigkeiten mich enttäuschen.

Diese wundervollen Erfahrungen,
meine Interessen
und
Leidenschaften,
Begabungen,
Eigenheiten
und
Stärken
machen mich aus.
Niemals würde ich mich über (m)eine Krankheit definieren (wollen).
Darum bin ich in keiner Vereinigung oder keinem Verband von Betroffenen.
Darum spreche ich nicht oft darüber.
Darum unternehme ich so viel wie möglich.
Und wiederum darum wurde der Blog notwendig, wo das Leben mit chronischen Krankheiten und allem, was damit zusammenhängt, für einmal das Hauptthema sein soll.

Denn ich führe eine Art Doppelleben:
Was ich hier im Blog schreibe, erzähle ich kaum und lasse mir so wenig wie möglich anmerken.
Das geht manchmal mühelos, manchmal ist es anstrengend.
Weil viele Menschen sich nur vorstellen und glauben können, was sie sehen.
Weil viele Menschen schnell vergessen oder nicht verstehen, was „chronisch“ wirklich bedeutet und wie komplex und kompliziert alles, was damit zusammenhängt, sein kann.
Weil Blut-, Eisen- und Nährstoffmangel, Entzündungen und Funktionsstörungen von Organen in ganz anderen Dimensionen als bei gesunden Menschen daherkommen.
Weil Wissen und Verständnis oft fehlen.

Darum wurde der Blog notwendig.
Um vieles, was sich angestaut hat, niederzuschreiben.
Um weiterhin mit Freundinnen und Freunden zusammen sein zu können, ohne darüber reden zu müssen.
Jedenfalls nicht viel, nicht lange.
Das möchte ich nicht.
Ich definiere mich nicht darüber.

Wunderbar für mich ist es, mit Menschen zusammen zu sein, mit denen ich mich über verschiedene Themen unterhalten kann. Mit denen ich mich eingehend und angeregt austauschen kann, mit denen aber auch ein paar Minuten drin liegen, um ganz offen über Gesundheit und Krankheit zu reden, wenn es sich ergibt. So wie heute Morgen: Danke, Tanja, von Herzen.

Auch der heutige Morgen reiht sich ein in die lange Reihe glücklicher Stunden:
das gemütliche Frühstück in einem Hotel in Zürich nahe der Sihl,
die offenen und ehrlichen Gespräche,
der Spaziergang von der Bahnhofstrasse zum See, durch das Niederdorf und über die Limmat zurück zum Bahnhof – ich liebe Zürich, die Stadt ist wie eine Schatzkiste voller wertvoller Erinnerungen.
An vielen Orten und in vielen Ecken habe ich das Gefühl, ein Café, ein Restaurant, eine Bar schaue mich an und frage: „Weisst du noch?“
Bei der Kronenhalle und dem Café Odeon tauchte Max Frisch auf. Auch Tanja mag seine Werke; nicht das einzige, was uns verbindet.

„Der Mensch erscheint im Holozän“:
eines seiner zahlreichen faszinierenden und berührenden Bücher.
Es geht um das Vergessen, wovor Max Frisch selbst eine übermächtige Angst hatte, sodass er minutiös registrierte und dokumentierte, wie es um sein Gedächtnis stand.
Angst vor dem Zerfall, Angst vor dem Identitätsverlust.

Der Protagonist im Buch, Herr Geiser, bemerkt seinen Zerfall sehr wohl. Damit er doch noch Wissen beisammenhalten kann, schreibt er Einträge aus einem Lexikon auf kleine Zettel und hängt diese auf. „Der Mensch erscheint im Holozän“ zum Beispiel.

Das Gedächtnis, die Erinnerung, unsere Identität:
unser höchstes Gut, habe ich sie einmal genannt.
Die grösste aller Demütigungen durch Herrn Kurmann war, dass er nicht ernst nahm, dass ich viel mehr vergesse als früher.
Erklärbar durch den Schlafmangel, erklärbar durch die Medikamente, erklärbar durch die dadurch entstandene mentale Überlastung.

Dennoch: bedrängend, beängstigend, bedrohend.

Einmal im Sommer – in Berlin mit Taieb, ich weiss es noch genau… – fiel mir ein Wort nicht mehr ein. Es war da, aber ich konnte es nicht abrufen. Ich spürte, dass es da war, fand aber den Weg zu ihm nicht. Man kann nichts machen; sich anzustrengen, nützt nichts. Es ist da und doch nicht da, es ist da und kommt nicht, es ist da und entzieht sich.

Zum Glück ist es bei dem einzigen Mal geblieben.

Das Vergessen löst Befürchtungen aus.
Grosse sogar.
Viel grössere als
die Maschinen und Apparate,
die Tabletten und Narkosen,
das Rot und das Blut.

„Denken Sie, Sie hätten Morbus Alzheimer?“
Nein, denke ich nicht.
Aber im Gegensatz zu Ihnen weiss ich, dass diese Symptome – wodurch auch immer hervorgerufen – später dazu führen können und darum bedingungslos ernst genommen werden müssen.

Sie tun es nicht, Ihnen bin ich scheissegal.
So, wie Ihnen wohl die meisten (wenn nicht alle) Patienten und Patientinnen scheissegal sind.
Darum tun Sie ja, was Sie tun, und können wohl gar nicht anders.
Aber es gibt Ärzte und Ärztinnen, denen ich nicht egal bin.
Die mir helfen, die menschlich und fachlich voll auf der Höhe sind, ohne die ich nicht wüsste, was wäre.

Natürlich sang Chris gestern auch den „Ferryman“.
1982, ich war neun und in der dritten Klasse:
ein mitreissender Song; wir spürten, dass es um etwas ging.
Zehn Jahre später verstand ich die Bilder dahinter, die Allegorie auf den Tod.
Seit Januar dieses Jahres ist es für mich – live vorgetragen – eine emotionale Herausforderung geworden.
Gestern, im kleineren Rahmen, so nahe bei der Bühne, ein bisschen erhöht (danke, Mira!), mit direkter Sicht auf den Sänger und seine Gesichtszüge, in denen man sah, dass er mit jeder Zelle bei der Sache war, zweifelte ich ein paar Augenblicke, ob ich es aushalten würde.

Weggehen?
Nein!
Zu viele Leute, zu wenig Platz, zu eng.
Und auch sonst: nein.
Standhalten.
Standhalten ist fast immer besser als Ausweichen. Auch letzte Nacht war es das Richtige:
standhalten und mitsingen.

„Don’t do it.“

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