Herbst

Die goldenen Herbsttage sind wundervoll. Ich sitze für einmal nicht zu Hause auf dem Bett und schreibe mein Tagebuch, sondern draussen auf einer Bank in der Sonne. Als ich erwachte, war die Sonne schon da – in Eglisau besonders zu schätzen, da der Rhein in den kälteren Jahreszeiten öfters für Nebel sorgt.

Der Nebel und die Zürcherstrasse – die beiden Nachteile von Eglisau als Wohnort, die nebst den vielen Vorteilen jedoch meistens nicht gross ins Gewicht fallen. Zum Glück wohnen wir ruhig: entfernt von der Verkehrsachse. Und dem Nebel kann man entfliehen – nach Zürich, zum Beispiel:

Gestern verbrachte ich den ganzen Tag in Zürich. Als ich mit der Strassenbahn am Schauspielhaus vorbeifuhr, war er auch wieder da: Max Frisch.

Friedrich Dürrenmatt ebenfalls, den ich bewundere, obschon ich mit seinen Werken nicht so viel anfangen kann. Max Frischs „Homo Faber“ wird zur Zeit im Schauspielhaus in einer neuen Inszenierung aufgeführt: wohl sein bekanntestes Werk, auch eine beliebte Schullektüre. Nur leider viel zu selten verstanden – na ja, verstanden vielleicht schon, aber ohne das Verstandene umzusetzen.

Früher ärgerte ich mich über Leute, die meinen, alles im Leben sei plan-, strukturier- und kontrollierbar. Bis das Leben einen Strich durch die sorgfältig aufgestellte Rechnung macht. Früher ärgerte ich mich, heute kann ich darüber lachen. Nicht auslachen, sicher nicht: einfach für mich.

Zum Glück war ich nie so, zum Glück haben mir die Natur oder Gott oder wer/was auch immer und meine Erziehung eine grosse Offenheit und Beweglichkeit gegeben. Zum Glück spürte und wusste ich schon vor der Diagnose, dass der Glaube an die Plan- und Organisierbarkeit ein grosser Trugschluss ist und vor allem Unsicherheiten verbirgt. Sonst hätte ich weniger gut damit umgehen können.

Vorbei an „Homo Faber“ und weiter zum Hottingerplatz.

Später trafen wir Franziska mit ihrer süssen, achtmonatigen Tochter Emily und spazierten dem Zürichsee entlang: Taieb hatte grosse Freude an Emily und gab sich alle Mühe, sie bei guter Laune zu halten; sogar dann, als sie Hunger bekam und zu weinen anfing. Franziska und ich fanden, er wäre ein guter Mitarbeiter in einer Kindertagesstätte. Eine Stunde zuvor hatte ich ihm noch gesagt, er solle sich ein Vorbild nehmen an Emily, wie sie so zufrieden im Wagen schlief, beide Händchen emporgestreckt und die Fingerchen leicht gekrümmt, und, im Gegensatz zu ihm, nicht nach einem Eis schrie.

Ein Eis gab es nicht, dafür heisse Marroni bzw., um genau zu sein, Esskastanien aus Italien. Wir unterhielten uns mit dem Verkäufer, der fand, Taieb wäre ein guter Marroniverkäufer. Kita-Mitarbeiter, Marroniverkäufer, … – ich sehe ihn eher als Architekten, weil er gerne entwirft und gestaltet und ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen hat. Aber egal: Hauptsache, die Kinder können später im Beruf ihr Potential zeigen und er wird sie glücklich machen.

Zuerst war der Himmel noch bewölkt. Plötzlich wurde er heller und an der Stelle, wo die Sonne sich verbarg, sogar ganz hell, sibrighell, hellgelb dahinter. Dann kam die Sonne richtig hervor, die Bedeckung verschwand vollständig, der Himmel war ganz blau, ein eher helles Blau, aber kräftig, und die Blätter an den hohen, alten Bäumen leuchteten goldgelb und dunkelrot.

Ich liebe die Sonne, ihre Wärme, ihr Licht. Und ich bin froh, dass ich sie weiterhin gut vertrage. Das ist nicht selbstverständlich; gewisse Autoimmunerkrankungen gehen mit einer Empfindlichkeit gegenüber Sonnenlicht einher. Die habe ich nicht. Nur gegenüber Neonlicht. Das vertrage ich gar nicht. Im Badezimmer mache ich es nie an, sondern immer das Licht im Treppenhaus. Es ist bei weitem nicht so grell, und so geht es.

Als ich heute Morgen erwachte, waren nicht nur die Sonne und ihr helles Herbstlicht da, sondern auch starke Kopfschmerzen: so stark, dass ich den Kopf kaum bewegen konnte. An Haarewaschen war also nicht zu denken. Wenn ich Schmerzmittel nehmen könnte, was wohl die meisten Leute in solchen Fällen tun, wäre die Sache jeweils halb so wild. Aber Schmerzmittel könnten einen Krankheitsschub auslösen. Vor allem ein Wirkstoff ist gefährlich; daher darf ich ihn nicht einnehmen. Zudem vermeide ich Schmerzmittel, weil ich die Leber nicht noch zusätzlich belasten möchte.

Kopfschmerzen hatte ich früher übrigens kaum je. Erst seit der Diagnose 2014 und den darauf begonnenen Therapien mit Kortison habe ich Kopfschmerzen – auch eine der zahlreichen Nebenwirkungen. Von dieser blieb ich nicht verschont, und sie kann noch wochen- bis monatelang über die Therapie hinaus andauern. Herr Kurmann fand auch das nicht so schlimm:

Klar, Kopfschmerzen haben viele Leute. Aber ich hatte früher keine, und ich muss Schmerzmittel, wenn irgendwie möglich, vermeiden. Die einzige Chance ist dann jeweils Kaffee: heute Morgen drei Tassen. Er half soweit, als dass ich danach überhaupt etwas machen konnte, weil die Schmerzen nachliessen, wenn auch nicht weggingen. Später eine vierte Tasse, die letzte Chance: Mehr bringt nichts, und mit mehr versuche ich es darum nicht.

Der gestrige Nachmittag mit Franziska und Emily sowie der Abend mit Mira gehören wie der Freitagmorgen mit Tanja zu Erfahrungen und Erinnerungen, die wie farbige, leuchtende und in ihrer Form einzigartige Herbstblätter zurückbleiben, im Gegensatz zu den Blättern aber nie braun werden und nie abfallen. Sie bleiben für immer in mir. Mira und Bärbel danke ich an dieser Stelle noch vielmals für die anerkennenden und motivierenden Rückmeldungen zum Schreiben. Ja, ihr habt beide recht, ich weiss schon…

Max Frisch war übrigens auch Architekt. 🙂

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert