Ein Wort oder tausend Sätze

Meine Zufriedenheit mit dem gestrigen Beitrag hält sich in Grenzen. Immerhin habe ich eine Ausrede: Dreimal wurde ich gestört. Also nicht nur gestört, das passiert sonst auch ab und zu, sondern so richtig erschreckt.

Dreimal klingelte unsere Hausglocke,
dreimal lief ich die Treppe hinunter ins Erdgeschoss,
dreimal standen Gespenster, Geister, Hexen und andere Schreckgestalten vor der Tür, machten undefinierbare Geräusche und wollten Süssigkeiten haben.

Zum Glück hatte ich an Halloween gedacht und zwei Tüten mit verschiedenen Schleckwaren gekauft.
Das erste und das dritte Mal erschrak ich trotzdem.
Das zweite Mal nicht: Das war unverkennbar Yannik – einfach in Schwarz. Er blieb nicht draussen stehen, sondern stand sofort im Hauseingang und fragte mit unverstellter Stimme nach Süssigkeiten, die ich ihm natürlich gab. Dazu hatte ich sie ja schliesslich extra gekauft.

„Ich han scho viermal öppis übercho, Sabine.
Danke, Sabine.
Tschüss, Sabine.“

Und weg war er.

Dass hochdosiertes Kortison und andere starke Medikamente die Persönlichkeit verändern (können), haben die Kinder auch zu spüren bekommen. Das war für mich schlimm und tat mir leid für sie. Für Erklärungen sind sie noch zu jung.

Wobei: Ich habe auch versucht, erwachsenen Personen diese Problematik zu erklären, aber zum Teil verstehen sie noch weniger als Unterstufenkinder. Ja, tatsächlich, gewisse Wirkstoffe sowie ausgeprägte Mängel an Nährstoffen verändern die Persönlichkeit, was bedrohlich werden kann. Und es ist unsichtbar, alles immer unsichtbar.

Man ist dann nicht mehr sich selbst.
Man kennt und versteht sich selbst nicht mehr,
man weiss nicht, warum man wie reagiert
und
warum man die Nerven schnell verliert.
Man ist so anders, als man früher war,
man verliert sich selbst.

Wenn man das nicht erklärt, kann man nicht erwarten, dass andere einen verstehen.
Wenn man es aber erklärt und später merkt, dass überhaupt nichts angekommen ist, fragt man sich, ob die betreffenden Personen vielleicht selbst so im Schlamassel, überlastet und überfordert sind, dass sie gar keinen Raum mehr für die Anliegen anderer Menschen haben.
Wenn man merkt, dass sie nichts von einem Leben mit chronischen Krankheiten verstanden haben und völlig ungläubig feststellen, dass man die Nerven schnell verliere, sitzt man da und weiss, dass es keinen Sinn (mehr) hat: ein Wort oder tausend Sätze – es kommt nicht darauf an, es führt zu nichts.

Dann entscheidet man sich am besten nicht für tausend Sätze, sondern für ein Wort: adieu.

Adieu.
Dieu.
Gott: Ob man an ihn glaubt oder nicht, dann muss man eine besondere Kraft spüren und einen anderen Weg gehen.

Herrn Kurmann, dem man auf dem Foto, das ich im Internet entdeckt habe, den Hohn ansieht,
hätte ich erklären wollen,
dass ich sehr wohl wieder arbeiten wolle und könne,
mich aber zuerst vollständig erholen müsse.
Ich hätte ihm erklären wollen,
dass es nicht lustig ist,
Bauchkrämpfe und Rückenschmerzen zu verbergen.
Ich hätte ihm erklären wollen,
dass es nicht lustig ist,
vor 20 Jugendlichen zu stehen und vor Müdigkeit immer wieder nichts als Schwarz vor den Augen zu sehen,
dass es nicht lustig ist,
vor 20 Jugendlichen zu stehen und zu merken, dass Blut fliesst.

Dass sie gnadenlos beobachten und registrieren.
Dass sie nur kurzfristig ein bisschen Verständnis aufbringen können.
Dass ihre Welt sich vor allem um sie selbst, um ihre Noten und Prüfungen und noch einmal um sie selbst dreht.
Dass sie gelernt haben, zu nehmen, aber (noch) nicht, zu geben.
Dass chronische Krankheiten sich nicht an Stundenpläne oder Schulglocken halten.
Dass sie unerbittlich zuschlagen können und man dann lieber keine Zuschauer hat.

Nach dem ersten Satz hörte ich auf:
ein Wort oder tausend Sätze – es hätte nichts gebracht.
Dafür habe ich mich für den Blog entschieden:
Es geht um Gerechtigkeit und um die Wahrheit – ja, die Wahrheit.
Nicht um verschiedene Wahrnehmungen – plapper, plapper – sondern um die Wahrheit.

Erinnerungen helfen immer,
momentan solche an die letzte Woche:
das einzigartige Konzert
und
die Begegnungen mit Tanja, Franziska und Mira.

Mit Mira war ich in der Brasserie Schiller, schaute die Weinkarte an, insbesondere den Rotwein. Die Preise sind exorbitant hoch, die Bedienung war exorbitant unfreundlich. Ich entschied jedoch nicht nach dem Preis, sondern nach dem Namen:

„Valletta“. 😀

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