Was nicht sein darf…

Gestern war „Allerheiligen“, der Tag, an dem aller Heiligen gedacht wird. Am Folgetag wird der Verstorbenen gedacht: Ich ging mit beiden Kindern auf den Friedhof zu Nahoms Grab. Dort steht jetzt sogar ein Fahrrad, und neben der grössten Laterne liegt ein weiterer Fussball. Die Briefe haben im Regen etwas gelitten, sind etwas verblasst und vergilbt, aber alle noch dort.

Auch die beiden bunten Gummibälle von Taieb und Naila – schön nebeneinander, bewegungslos, als ob sie schon immer dorthin gehört hätten. Die vielen Blumen, die grossen Kränze: alle noch dort. Vielleicht macht es Angst, sie wegzunehmen. Vielleicht wäre der Abschied dann komplett, der letzte, wenn auch noch so irrationale Funke Hoffnung zerstört, das Unwiderrufbare sichtbar.

Ich hatte zwei Kerzen gekauft, eine grüne und eine violette: Zum Glück gab es keinen Streit, wer welche hinstellen und anzünden dürfe. Auf dem Friedhof, der dank den Bäumen, die ihre alten Geschichten zu erzählen scheinen und ihre roten oder goldenen Herbstblätter tragen, als ob sie ihnen für immer gehören würden, ein Ort voller Schönheit und Vergangenheit ist, hätte ich das gar nicht gewollt.

Ich war zum ersten Mal mit beiden Kindern dort. Die Leichtigkeit, mit der sie über Nahom und dann auch mit Nahom sprachen, berührte mich. Taieb erzählte ihm vom Fussballclub und vom Training und war sich gleichzeitig bewusst, wie Nahoms Mutter, seine Familie, seine engsten Verwandten sich wohl fühlen: verlassen und verloren.

Wir stellten die beiden Kerzen nebeneinander in die grosse Laterne hinein, wo sie am besten brennen können, schlossen das hölzerne, weissgestrichene Türchen, schauten den kleinen, ruhigen Flammen zu und gingen zum Auto zurück. Da fiel mir auch Sabine wieder ein: Sabine, die gegenüber im Hort arbeitet; Sabine, bei der die Frage nach einem Wort oder tausend Sätzen sich nicht stellte, bei der es nicht drauf ankam, ob ich viel oder wenig erzählte; nicht, weil sie sowieso nicht verstand, sondern weil sie sowieso verstand.

Darauf fuhren wir zur Bäckerei und kauften zu Taiebs Missfallen einen Marronigugelhupf. Er hätte demjenigen mit Schokolade den Vorzug gegeben, musste sich aber der weiblichen Mehrheit fügen. Zu Hause war der Ärger schon wieder verflogen, und er schnitt den Kuchen in Stücke: ein grosses Stück für Rahel, ein grosses Stück für Pia. Mit ihr und beiden Hunden (Holly und Cino) war Naila heute drei Stunden lang unterwegs und beschäftigt. Und ja, ich kann mich nur wiederholen: Es ist ein Segen, Nachbarinnen wie Pia, Rahel und Karina zu haben!

Bei uns war nach dem Mittagessen Albulena zu Gast; Taieb half ihr bei den Hausaufgaben: sehr süss. Die beiden hatten das auf dem Nachhauseweg abgemacht. Sie mussten Länder und deren Hauptstädte an die richtigen Stellen auf einer Karte übertragen – auf Englisch. Ich half ein bisschen bei der Aussprache, vor allem bei „Ireland“ und „Dublin“. Und wenn wir schon bei der Schule sind:

Herr Kurmann schreibt – ich werde den Bericht wohl nie zu Gesicht bekommen; wie gesagt, wir sind hier in der Schweiz (!) – ich sei arbeitsfähig. Also: ins Schulzimmer sitzen und einschlafen – weil der Stoffwechsel sich noch (längst) nicht erholt hat. Ins Schulzimmer sitzen und kaum etwas sehen – weil die Augenentzündung vier Wochen dauerte und fast gefährlich geworden wäre. Ins Schulzimmer sitzen und mich übergeben – weil Müdigkeit in dem Ausmass irgendwann zu Übelkeit führt.

Ins Schulzimmer stehen und nicht denken können – weil ich starke Kopfschmerzen nicht mit Schmerzmitteln lindern kann. Ins Schulzimmer stehen und nicht entscheiden können – weil der Körper noch nicht wieder funktioniert, weil Organe zum Teil ausgeprägt entzündet waren, weil ich mich nicht nur von den acht Monaten, sondern auch von den Jahren vor den Diagnosen und vor den Therapien – und immer im Arbeitsprozess – noch überhaupt nicht erholen konnte. – Wann auch? Während einer hochdosierten Kortisontherapie? Während einer Therapie mit Immunsuppressiva? Während einer Therapie, die nichts brachte? – Wann auch?

Aber macht nichts, Herr Kurmann, ich schreibe jetzt auch über Sie. Ich schreibe über die Wahrheit, die manche Personen versuchen, mit ihrem Gerede von den verschiedenen Wahrnehmungen zu vertuschen. Diese Personen sollten einmal – einmal nur – in meiner Situation sein und von Ihnen, Herr Kurmann, befragt und untersucht werden. Dann gäbe es keine verschiedenen Wahrnehmungen mehr. Diese gibt es nämlich nur, solange Realitäten (in diesem Fall von einem Leben mit einer chronischen Krankheit) keinen Platz haben dürfen und können, weil Unbetroffene entscheiden, dass nicht sein kann oder darf, was ist.

Es gibt auch das Gegenteil: Ich weiss, dass Menschen meinen Blog lesen, die selbst von einer oder mehreren (schweren) Autoimmunerkrankung(en) betroffen sind und vieles, was ich schreibe, selbst durchgemacht haben oder durchmachen. Die wissen, was Kortisoninfusionen sind. Was Nebenwirkungen bedeuten. Was diese Müdigkeit bedeutet und wie sie sich von allen vorher gekannten Arten von Müdigkeit unterscheidet.

Dies weiss ich, bedanke mich für den bereichernden Austausch und freue mich auf weiteren Austausch. Ich denke immer auch an diese Menschen, wenn ich schreibe.

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