Musik statt Medizin

Das ist es eben: Nach nicht einmal drei Stunden Schlaf kann man sehr wohl im Schulzimmer sitzen – drei ganze Lektionen lang. Und es sogar geniessen – als Mutter, nicht als Lehrerin:

Die „wer A kann, kann auch B“-Gleichung funktioniert kaum je. Das Leben selbst entzieht sich dieser Simplizität: Wer als Mutter zwei Lektionen im Schulzimmer und eine in der Turnhalle sitzt, kann bei weniger als drei Stunden Schlaf über Wochen, über Monate sicher nicht als Lehrerin im Schulzimmer agieren. Von einem Zuschauer eines Theaterstücks wird auch nicht erwartet, dass er selbst auf die Bühne steigt, in eine Rolle schlüpft, sich verwandelt, spielt, unterhält, den ganzen Laden schmeisst und alle Blicke auf sich gerichtet hat.

Geschlafen hatte ich also kaum. Trotzdem bin ich erleichtert, trotzdem bin ich zuversichtlich. Die Blutwerte sind nämlich in Ordnung: Die Leberwerte und die Nierenwerte sind im grünen Bereich, das Blutbild ist gut, die Entzündungswerte sind niedrig. Nur gewisse Nährstoffe sind noch nicht im erwünschten Bereich. Aber Tabletten werden reichen – keine Spritzen, keine Infusionen, kein Stechen.

Die Cortisol-Werte könnte man auch messen, früh am Morgen und nüchtern. Dann wird es nämlich hauptsächlich ausgeschüttet; darum sollten Kortison-Tabletten möglichst frühmorgens eingenommen werden. Man könnte sie messen und sähe dann, wie die Produktion vorangeht. Es brächte aber nicht viel, das heisst es hätte keine Konsequenzen im Sinne einer möglichen Behandlung.

Wir müssen uns beim nächsten Mal sowieso überlegen, ob eine Kortisonbehandlung überhaupt noch sinnvoll ist, wenn die Neben- und Nachwirkungen derart lange dauern und derart erschlagend sind. Kein Kortison würde aber Immunsuppressiva bedeuten – Imurek. Oder mit anderen Worten: Chemotherapie „light“. Oder Biologika. Nach ihnen bleibt dann nicht mehr viel übrig abgesehen von gewissen technischen Verfahren oder Operationen – meinen Schreckgespenstern. Halloween ist nichts dagegen.

Vorerst bin ich aber erleichtert und dankbar: allen, die mir auf dem Weg dahin geholfen haben; allen, die zu mir standen und zu mir stehen; allen, die wussten oder spürten, dass die ganze Sache komplex und lebenslänglich ist; allen, die sich einfühlen konnten und wollten; allen, die nicht urteilten; allen, mit denen ich frohe und unbeschwerte Stunden verbracht habe. Und es ist nicht vorbei, es ist nie vorbei: „Gutes Annehmen“, „Gutes damit Leben“, „Lange und stabile Remission“ statt „Gute Besserung“.

Heute Morgen liess ich mir nichts anmerken in der Schule: Albulena wählte Taieb aus, um mit ihm zusammen ihre Idee zum Wörterlernen zu präsentieren. Joël zeigte mir stolz ein paar Zeichnungen und siezte mich zum Glück nicht wieder. „Sabiiine, lueg emal, was ich zeichnet han.“ Linus wollte, dass ich mit in den Sport komme und beim Piratenfangen mitmache.

Ich machte dann nicht mit, aber ich setzte mich auf die Bank am Rande der Turnhalle und schaute zu: Die Regeln durchschaute ich bis zum Schluss nicht, aber das frohe Gekreische und unermüdliche Hin- und Herrennen, um das Gold zu retten, liessen viel Lebensfreude, Motivation und Teamgeist zum Ausdruck kommen. Ich freute mich darüber und über die roten Wangen, die nassgeschwitzten Haare, die nackten Füsse, die keuchenden Stimmen.

Ob ich selbst bald wieder Sport treiben könne, wusste ich in der Turnstunde am Morgen noch nicht. Jetzt sieht es ganz danach aus. Ich bin froh darüber, habe aber auch Angst davor: Ich werde bei Null anfangen, meine Kondition ist auf dem Nullpunkt. Wenn ich ein paar Meter auf den Zug rennen muss, bin ich ausser Atem, die Luft geht nicht in die Lungen hinunter, staut sich und erschwert den nächsten Atemzug.

Gespräche über Marathon-, Triathlon- und Ironman-Zeiten sind für mich Gespräche aus einer anderen Welt, einer fremden Welt: einer Welt ohne chronische Krankheiten.

Jemand sagte mir, ich sähe gut aus. Das hat mich berührt und gefreut, weil es von Herzen kam und so gemeint war. Dass ich mich fühlte wie die Eule im „Lied der Eule“, das die Kinder mit Hingabe sangen, sah man nicht. „Am hellen Tag bei Sonnenschein, da schlaf ich unterm Dach. Die Augen schliess ich ganz fest zu, erst abends werd ich wach.“

Wenn die kortisonbedingten Schlafturbulenzen nicht aufhören, könnte ich ja Eulenwärterin werden.

 

 

 

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