Niemanden für die Kinder

Jetzt ist die Müdigkeit so gross, dass sie sich selbst schon fast wieder aufhebt. Ich habe mir schon überlegt, ob das ein Schutzmechanismus des Körpers ist. Wobei der tranceartige Zustand, in dem ich mich dann jeweils befinde, heute auch auf die Erleichterung über die Untersuchungsresultate zurückzuführen sein könnte: die Erleichterung, von der ich nicht wusste, wann sie käme, in welcher Form sie käme, ob sie überhaupt je wieder käme.

Es gibt schubweise verlaufende Erkrankungen, bei denen plötzlich oder schon von Anfang an keine Remission (mehr) eintritt und man gar nie (mehr) eine Chance auf Erholung bekommt. Es gibt Erkrankungen, die vom schubweisen in einen progredienten / progressiven Verlauf übergehen, was bedeutet, dass die Symptome immer ausgeprägter und schlimmer werden – besonders gefürchtet bei Multipler Sklerose. Dann gibt es ebenfalls keine Erholung mehr.

Ganz symptomfrei sind die Remissionen meistens auch nicht: Es ist oft irgendetwas, was einen daran erinnert, dass man nicht ganz gesund ist. Ja, es ist oft irgendetwas; und nein, es ist nicht im Kopf, keine Einbildung, keine Suche nach Aufmerksamkeit. Solche Annahmen, mit denen ich glücklicherweise selten konfrontiert bin, existieren durchaus. Es mag ja solche Fälle geben; sie schaden denen, die leiden, kämpfen und schweigen, enorm. Auch ich habe gelitten, gekämpft und geschwiegen. Bis ich das Schweigen brach, brechen musste – mit dem Blog.

Es gibt schon Menschen, die Aufmerksamkeit suchen und Aufmerksamkeit brauchen. Und es gibt das Gegenteil: Menschen, die ganz viel verbergen, verdecken und verschweigen, jeden Tag kämpfen und gleichzeitig so tun, als ob es ihnen gutgehe. Es gibt schon Menschen, die Krankheiten vortäuschen. Und es gibt viele, die vortäuschen oder zumindest vorzutäuschen versuchen, sie seien gesund und fit. Es gibt schon Menschen, die sich Vorteile erhoffen, wenn sie möglichst immer etwas haben. Und es gibt viele, die fast alles darum gäben, nie erlebt und erfahren zu haben, was es bedeutet, chronisch krank zu sein:

Meister und Meisterinnen im Überspielen, die sich tausend Strategien aneignen und sich alle Mühe geben, dass niemand etwas merkt.

Unwissen und Unverständnis sind das Letzte, was sie dann noch brauchen.

Heute kann ich über eine Prorektorin, die fand, ich verlöre schnell die Nerven, nur noch lachen. Auch wieder: nicht auslachen, aber für mich lachen, weil ich darüber stehe. Weil sie offenbar keine Ahnung von 60, 80 und 100 Milligramm Kortison pro Tag hat. Weil sie nicht weiss, dass im Beipackzettel bei den Nebenwirkungen nicht nur Persönlichkeitsveränderungen aufgeführt sind, sondern unter Prednison, hochdosiert, sogar Psychosen auftreten können. So weit kam es bei mir ja gar nicht; sonst hätte sie sich wohl noch mehr wundern müssen…

Weil sie nicht weiss, dass bei Leber- und Darmentzündungen der Nährstoffhaushalt empfindlich gestört wird. Dass bei einem ausgeprägten Mangel am Komplex der B-Vitamine, vor allem Vitamin B12, die Nerven darunter leiden. Weil sie offenbar nicht weiss, wie es ist, monatelang, vielleicht jahrelang in der Nacht kaum schlafen zu können:

In einer grossangelegten Befragung von Patienten und Patientinnen mit Autoimmunerkrankungen, die ja so unterschiedlich sind und äusserst unterschiedlich verlaufen, war der herausragende gemeinsame Nenner diese noch nie dagewesene, ungekannte Müdigkeit. Sie lässt Betroffene vielleicht zum ersten Mal im Leben nachvollziehen, warum ein Mensch Selbstmord begehen kann. Ich kann mir zwar nie und nimmer vorstellen, auch nur daran zu denken, aber ich kann, seit ich diese allumfassende, unbezwingbare Müdigkeit kenne, nachvollziehen, dass ein Mensch so weit kommen kann.

Was soll man auch anderes tun, als über Unverständnis und Unwissen zu lachen?

Man muss es lernen, um zu leben. Man kämpft sonst schon und braucht keine Leute, die es einem noch schwerer machen.

Darum: für sich darüber lachen können und den Lebensweg ohne diese Leute weitergehen.

Absurd waren für mich Momente, wenn ein Arzt oder eine Ärztin mir sagte, ich sei so gefasst und ruhig. Absurd nur, weil ich mir zwei Tage zuvor von oben genannter Prorektorin hatte anhören müssen, ich verlöre schnell die Nerven. Absurd nur, weil ich die betreffende Person erleben möchte, wenn sie zu den an Leib und Seele Betroffenen und nicht mehr zu den von aussen Urteilenden gehören würde. Absurd auch, weil ich das an sich wunderbare Kompliment des Arztes oder der Ärztin gar nicht richtig aufnehmen konnte.

Das Überspielen erreichte im Januar dieses Jahres seinen absoluten Höhepunkt. Ja, es muss der absolute Höhepunkt gewesen sein, in Antiparallel-Entwicklung zum absoluten (gesundheitlichen) Tiefpunkt. Ich weiss nicht, ob ich je verstehen werde, weshalb ich es so weit kommen liess, weshalb ich mir das antat. Ich weiss nicht, ob ich mich selbst je verstehen werde; ich weiss nicht, ob mir je ein anderer Mensch erklären kann, warum ich tat, was ich tat, warum ich nicht auf meine Hausärztin gehört hatte:

Es war fünf vor zwölf; ich liess es dann beinahe, beinahe zwölf werden. Darüber berichten kann ich jetzt noch nicht, aber ich kann etwas über die Notenkonvente einige Tage zuvor schreiben: dass ich merkte, wie die Nieren brannten, wie der Magen in Flammen aufzugehen drohte und wie ich Blut verlor. Dass ich mich nicht traute, aufzustehen und hinauszugehen. Dass ich auf das Blatt vor mir starrte und wie durch einen feinen Nebel hindurch mitbekam, was die anderen redeten. Dass ich die Witze, über die ich sonst auch gerne gelacht hatte, nicht (mehr) lustig fand.

Ich hätte schreien können. Ich sagte kein Wort. Das Blut lief. Ich umklammerte mit den Fingern einen Leuchtstift, drückte auf ihn, immer fester und fester, so fest ich konnte. So konnte ich die Aufmerksamkeit kanalisieren und von den Schmerzen weglenken. Wohl hoffte ich auch, durch das feste Drücken den Blutfluss zu stoppen.

Das Blatt vor mir auf dem Tisch. Das Blut. Das Blatt. Das Blut. Das Blatt.

Kurz vor Ende des Notenkonvents stand ich auf, ging hinaus und auf die Toilette, eine Einzeltoilette. Dort brach ich zusammen, kam wieder zu mir, wusch mir das Gesicht, merkte, dass die Blutungen aufgehört hatten, nahm trotzdem ein Medikament dagegen und ging an den nächsten Notenkonvent und später noch mit ein paar anderen zusammen in die Kantine zum Mittagessen. Danach fuhr ich nach Hause, anstatt am Nachmittag auch noch an den allgemeinen Konvent zu gehen. Für diesen entschuldigte ich mich noch rechtzeitig. Ich sagte, ich hätte niemanden für die Kinder gefunden.

Damals war ich an einem Punkt, wo ich keine Energie mehr hatte zu erklären, keine physische und keine psychische Energie mehr. Dass „nur“ die Schmerzen beim Gebären noch schlimmer sind, dass mir im Bauch- und Rückenbereich alles weh tut oder brennt und ich gar nicht mehr klar unterscheiden kann, welche Schmerzen woher kommen. Dass innere Organe stark entzündet sind; so stark, dass ich innerlich und äusserlich blute. Und dass es sich dabei nicht um meine Wahrnehmung, sondern um die Wahrheit handelt: um die Wahrheit in Rot.

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