Der Schirm

Heute Morgen kaufte ich einen Kaffee an einem Kiosk in Winterthur. Der Kioskinhaber ist aus Mazedonien. Ich kaufe ab und zu einen Kaffee bei ihm, und wir haben es jedes Mal lustig. Er weiss, dass ich keinen Zucker, aber zwei Portionen Kaffeerahm (Kaffeesahne) möchte.

Einmal fragte er mich, ob er den Rahm hineintun und umrühren dürfe. Ich sagte ja und lachte, weil ich nicht ganz verstand, warum er das überhaupt fragte. Er meinte, es gebe eben alle Arten von Leuten; auch diese, die den Kaffeerahm selber hineintun und selber umrühren wollen. Wir lachten zusammen.

Heute war ein Kollege von ihm dort, und als er mich sah, erzählte er seinem Kollegen sofort, dass ich vor zwei Wochen zum letzten Mal bei ihm vorbeigekommen sei – was stimmt – und dass er sehr froh über mein Erscheinen gewesen sei. Ein Englisch sprechender Herr war damals daran, auf ihn einzureden, und gestikulierte unverständlich mit den Händen: Er formte einen Stab und machte oberhalb des imaginären Stabs eine Geste, die an eine kleine Explosion erinnerte.

Der Kioskinhaber schilderte dies seinem Kollegen vielleicht ein Spürchen dramatischer, als ich die Situation wahrgenommen hatte, aber ich erinnerte mich auch gleich wieder daran. Der Englisch sprechende Herr wollte nämlich nicht den Kiosk in die Luft sprengen, sondern hatte lediglich seinen Schirm liegen lassen und wollte wissen, ob er aufbewahrt worden sei: „Umbrella, umbrella, umbrella…“

Der Mazedonier verstand ihn nicht und war erleichtert, als ich ihm sagen konnte, der Herr sei auf jeden Fall harmlos und wolle nur nicht nass werden. Der Schirm, ein blauer Knirps, lag oben auf dem Schrank. Zufrieden verliess der Engländer den Kiosk.

Verschiedene Wahrnehmungen: ja, in solchen Situationen sicher. Aber nicht, wenn ich zwischen Notenkonventen zusammenbreche; nicht, wenn ich vor der ersten Lektion Schmerzmittel nehme, die ich eigentlich gar nicht nehmen dürfte, nur um irgendwie durchzuhalten; nicht, wenn ich mich nach der letzten Lektion wegen Medikamentenunverträglichkeit übergebe.

In solchen Fällen geht es um Tatsachen – um über Jahre verborgene Tatsachen:

Jetzt rede ich; nein, jetzt schreibe ich: Mein Blog ist wohl auch eine Katharsis, eine Reinigung – oder eine Art Psychotherapie, die ich mit mir selbst durchführe. Während ich schreibe, kommen mir Erlebnisse wieder in den Sinn, die ich bereits vergessen oder verdrängt hatte. Manchmal bin ich selbst gespannt, was kommt; ich plane die Texte nicht, sondern schreibe jeweils nur Stichworte auf zu Erfahrungen und Gedanken, über die ich berichten möchte: über falsche Bilder und Urteile zum Beispiel.

In den letzten Beiträgen sind diejenigen gemeint, denen ich zu erklären versucht hatte, was ich habe und was das bedeutet. Für die ich mich bemüht hatte, die ganze Sache zu vereinfachen. Die beispielsweise trotzdem nicht verstehen, dass Fehldiagnosen bei Autoimmunerkrankungen nicht unüblich sind. Die Verständnis auf Zeit hatten und später unmissverständlich signalisierten, dass ich jetzt aber wieder gesund zu sein hätte. Und die nicht merkten, wie ohnmächtig mich ihr Verständnis auf Zeit machte und wie weh es tat; mehr noch als Unverständnis von Anfang an, mehr noch als die entzündeten Organe.

Im Wartezimmer meiner Hausärztin stiess ich auf einen Flyer eines etwas ausgefallenen Chors: des „Ich-kann-nicht-singen“ – Chors: „Nicht singen kann jeder, singen auch.“ Weiter heisst es: „Wenn du gehen kannst, kannst du auch tanzen. Wenn du sprechen kannst, kannst du auch singen.“ Dieses Sprichwort aus Zimbabwe sprang mir in die Augen:

„Wer A kann, kann auch B.“ Warum ist die an sich unendlich viel zu simple Gleichung hier für einmal „richtig“? Weil sie positiv gemeint ist: bestärkend, ermutigend, fördernd. Sie macht einen Menschen grösser und stärker, erhebt und erfüllt ihn.

Heute kaufte ich die Zugfahrkarten für unsere Reise nach Belgien: Taieb und ich fahren am frühen Mittwochnachmittag los und kommen am Sonntagabend zurück. Wir freuen uns sehr. Die Kinder haben zwei Tage schulfrei, und wir nutzen die Gelegenheit, unsere Freunde in Gent zu besuchen. Eigentlich wäre der Besuch ja für September geplant gewesen, aber der Prednison-Entzug führte zur Verschiebung. Dafür können wir eine Nacht länger bleiben und brauchen nicht einmal einen Jokertag für Taieb – beides ja umso besser.

Den Prednison-Entzug spüre ich noch mehr oder weniger unvermindert. Jetzt probiere ich einmal ein pflanzliches Schlafmittel. Die Packung Temesta steht weiterhin ungeöffnet im Spiegelschrank – ich will sie meiner Leber nicht auch noch zumuten. Auch im Hinblick darauf, als dass beim nächsten Schub wohl kein Kortison mehr zum Einsatz kommen wird: Die Neben- und vor allem Nachwirkungen erschlagen mich mehr als die Krankheit selbst.

Kein Kortison wird dann wohl Imurek bedeuten. Das ich absurderweise wegen der furchterregenden Liste von Nebenwirkungen nicht nehmen konnte. – Ja, konnte. Nicht: wollte.

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