"This one’s mine!"

Dies wird mein 71. Text. Schon seit drei oder vier Wochen denke ich, dass ich bald einmal alle Texte durchlesen und ein wenig überarbeiten sollte. Um das zu tun, muss ich aber in Stimmung sein. In guter Stimmung. Die Sonne sollte scheinen, und ich darf nicht müde sein. Vielleicht bin ich darum noch nicht dazu gekommen…

Vielleicht würde ich über meine eigene Offenheit erschrecken. Wobei: Offen bin ich sowieso, und dass ich das Schweigen früher oder später brechen würde, war mir schon länger klar. Wie Selena Gomez in ihrer kurzen und bewegenden Dankesrede für den Music Award beschreibt, ging es mir auch: Zu lange zu viel für mich behalten, in mir drinnen behalten, die Dinge (äusserlich) zusammengehalten, die (innerlich) total auseinandergefallen waren.

In Passionate AMA Speech, Selena Gomez Shares a Message for Anyone Who Feels Broken

Irgendwann geht das Zurückhalten nicht mehr; spätestens wohl dann, wenn Leute denken, man täusche Krankheit vor, nachdem man jahrelang Gesundheit vorgetäuscht hat.
Eine Minderheit, die das denkt, reicht, um das Fass zum Überlaufen zu bringen; eine einzige Person würde schon reichen. Ich kann der Person ja nicht ins Gesicht schreien. Ich kann sie nicht wach prügeln. Ich kann sie nicht mit dem vielen Blut, das ich verloren habe, beschmieren.

Darum schreibe ich jetzt darüber.
Und weil es mein Weg der Verarbeitung ist.
Und weil ich schon immer gerne geschrieben habe und jetzt wohl den Stoff dazu liefern kann.
Und weil ich auch für andere sprechen möchte.
Ich glaube, dass Menschen wie Selena Gomez, die berühmt und begehrt sind, und Menschen, die sich auf irgendeine Weise gut ausdrücken können, auch eine gewisse Verantwortung tragen zu tun, was sie tun können, um Aufklärungsarbeit zu leisten.

Gestern Morgen hatte ich immer noch Kopfschmerzen; die drei Tassen Kaffee halfen nicht wirklich.
Am Nachmittag verschwanden sie.
Am Abend waren sie aber leider wieder da, sodass ich den Text nicht fertig schrieb.

Am Nachmittag kam unser Innendekorateur, um noch einmal zwei Türen zu entfernen und dafür Vorhänge zu montieren. Wir haben insgesamt sechs Türen entfernen und durch Vorhänge, die farblich und von den Mustern her zum jeweiligen Zimmer passen, ersetzen lassen. Das war vor allem mein Wunsch, meine Idee.
Unser Haus ist hoch (vier Stockwerke und ein Dachgeschoss), aber die einzelnen Stockwerke sind nicht so gross, etwas mehr als 40 Quadratmeter. Ohne die Türen wirkt es geräumiger, offener, grösser und freier – das gefällt mir. Und keine Angst: Die Gästetoilette hat ihre Türe behalten. 🙂

Ich bin froh, wenn etwas läuft. Es sind Zeichen, dass das Leben weitergeht; Zeichen, dass ich auch auf den Schlachtfeldern gegen Autoimmunerkrankungen ganz gut bin; Zeichen der Normalität.
Die Normalität, die mich oft langweilt, die mir aber nach Zeiten jenseits jeglicher Normalität (oder besser gesagt in vorgetäuschter Normalität) auch wieder sehr willkommen ist.

Der letzte Dezember und der letzte Januar waren neun Wochen im Ausnahmezustand, mein gesundheitlicher Tiefpunkt und schauspielerischer Höhepunkt gewesen.
Innere Organe waren entzündet – wie stark möchte ich gar nicht wissen, wenn noch im Mai starke und ausgeprägte Entzündungen vorhanden waren: Es ging eigentlich gar nichts mehr, und ich erinnere mich, dass ich manchmal vor dem Schrank im Schulzimmer stand und nicht sicher war, ob ich es schaffen würde, die Schachteln mit dem Material und die Bücher zum Pult zu tragen und hinzulegen.
Oder dass ich gar nicht mehr wusste, was ich überhaupt brauchte und was nicht.
Dass ich befürchtete, Namen nicht mehr zu wissen.
Die Fächer zu verwechseln: Deutsch? Englisch? Oder vielleicht sogar Französisch?
Dass ich einmal hinaus und in ein anderes, leeres Schulzimmer ging, die Telefonnummer meines Internisten in mein Mobiltelefon tippte, die Leitung besetzt war, ich es nach drei Minuten, in denen ich wie öfters in jener Zeit kurz das Bewusstsein verloren hatte, noch einmal versuchte, die Leitung noch immer besetzt war, dass ich eines dieser verfluchten Schmerzmittel, das ich gar nicht nehmen dürfte, nahm und zurück ins Schulzimmer ging.
Das war so der richtige, totale Verschleiss, ein Raubbau am Körper und an der Seele.

Jeder Beitrag im Blog ist ein kleines Stück Verarbeitung. Irgendwann führt die Linie wohl ins Unendliche…, aber aufhören wird sie nie, ein Ende hat sie nie.
Wie im Mathematikunterricht im Gymnasium: Linien, die ins Unendliche führten. Faszinierend und unerklärlich.
Meine Verarbeitung wird wohl einer solchen Linie gleichen: Die Wunden werden kleiner und kleiner werden, sie werden weniger und weniger bluten. Ganz zu bluten aufhören werden sie aber nie, ganz verschwinden werden sie nie. Ganz, ganz vollständig, meine ich.

Ohne diesen Samstag Ende Januar wäre es vielleicht möglich gewesen. Vielleicht.
Wenn Gott und der Teufel damals um meine Seele gekämpft haben sollten, hätte der Teufel gewinnen müssen.
Nein, ich bin nicht stolz auf das, was ich in den zwei Monaten zuvor getan hatte. Nein, ich finde es nicht toll, nicht heroisch, nicht erstrebenswert und nicht nachahmenswert. Nein, ich war kein gutes Vorbild – für niemanden.

Ich habe es getan, weil ich einfach so bin. So war, muss ich jetzt sagen. Der Samstag Ende Januar hat das Präsens ins Präteritum gedreht. „Sie sind einfach so.“, sagte auch meine Hausärztin zu mir, nachdem ich die Krankschreibung im Dezember nicht akzeptieren wollte.
Sie sagte es freundlich, verständnisvoll und auch liebevoll. Doch ich merkte, dass sie für meine Art nicht mehr wirklich Verantwortung übernehmen konnte.

Für meine Art musste ich büssen. Für meine Art übernehme ich die Verantwortung.

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