Für nichts

Das indische Abendessen mit Karina „muss“ ich verschieben. Wir hatten auf den 8. Dezember abgemacht, aber nachdem drei Personen mir mitgeteilt hatten, wie brilliant Elton John gestern Abend in Wien gesungen & gespielt habe, konnte ich nicht länger widerstehen und kaufte zwei Karten. Jetzt freue ich mich sehr auf seinen Auftritt im Zürcher Hallenstadion.

Dass ich Paul Simon verpasst habe, ärgert mich schon noch ein bisschen; ich hoffe, dass eine andere Gelegenheit sich bald bietet, ihn zu sehen & vor allem zu hören.
Die drei Phänomene der Popmusik haben ein Alter, wo jede Tournée die letzte, jedes Konzert das letzte sein könnte. Mit diesem Gefühl gehe ich auch immer hin – ein Gefühl, das einerseits bedrückt, andererseits sämtliche Sinne (noch mehr) öffnet & (noch) empfänglicher macht für virtuoses Klavier- oder Gitarrenspiel, volle Töne in der Bruststimme & reine, klare Töne in der Kopfstimme, bewegende oder erheiternde Texte, Licht- und Videoeffekte, bebende Bühnen & verbindende Stimmungen.

Die Bruststimme habe ich heute Nachmittag mit Sandra auch trainiert. Wir haben „Falling Rain“ in Angriff genommen; jetzt weiss ich, wie ich es üben muss, damit es gut tönt. Das motiviert immer besonders und ich freue mich bereits auf die nächste Stunde am 12. Dezember.
Am 20. Dezember gehen wir zusammen essen: Ich werde sie einladen – als kleiner Dank, dass sie mir nie das Gefühl gegeben hat, mühsam zu sein, wenn ich Termine verschieben musste, und immer verständnisvoll reagiert hat.
Meistens wenn ich Termine verschieben muss, ist es ja nicht so, dass ich spontan Konzertkarten gekauft habe :-), sondern dass ich dringend zur Hausärztin oder einem Facharzt gehen muss, dass Organe entzündet sind & darum nicht richtig funktionieren, dass ich Schmerzen habe oder so müde bin, dass alles, wirklich alles, anstrengend ist.

Auch als kleiner Dank dafür, dass wir sowohl vor wie auch nach der eigentlichen Gesangsstunde immer noch zusammen Tee trinken & reden, dass sie sich diese Zeit nimmt & sogar der Unterricht an sich meistens länger als eine Stunde dauert.
Bei ihr habe ich von Anfang an viel gelernt:
In der ersten Stunde erklärte sie mir, dass sie gleich gewusst habe, dass ich eine eher tiefere Frauenstimme hätte. Gross & schlank, langer Hals – also auch längere Stimmbänder, die eben besser für tiefere Töne sind. Das war für mich wichtig & befreiend zugleich.
Keiner der vorherigen Gesangslehrer hatte mir das erklärt, und ich wusste nie, warum ich nicht so hoch hinaufkam.
Mit Sandra habe ich gelernt, wie ich auch höhere Töne erreichen kann, und die ganz hohen brauche ich sowieso nicht. Zudem ist sie jeweils begeistert, dass ich in den tieferen Lagen immer noch Klang in den Tönen habe. Das ist nämlich gar nicht selbstverständlich.

Ja, ich vergesse nie mehr, wie diese Erklärung auf Anhieb ein Problem löste, von dem sie ja nicht einmal etwas gewusst hatte. Von dem Zeitpunkt an konnte ich problemlos akzeptieren, dass ich ganz hohe Töne nie würde singen können. Der Grund liegt in meiner Konstitution, meinem Körper. Da ich zu meinem Körper ein gutes Verhältnis habe, war für mich von dem Zeitpunkt an bezüglich hoher Töne alles in Ordnung.

Und ja, ich habe ein gutes Verhältnis zu meinem Körper. Immer noch – trotz der Autoimmunerkrankung. Und das wird auch so bleiben. Gründe dafür gibt es wohl zahlreiche wie vielfältige:
Tai Ji, das ich zehn Jahre lang ausübte & wodurch ich meinen Körper intensiv kennenlernte.
Gute Gene für die Figur, für die Fingernägel & für die Haare. (Sie sind nicht gefärbt. :-))
Zwei komplikationslose Schwangerschaften, zwei spontane Geburten, zweimal eine Rückbildung, deren Tempo selbst erfahrene Hebammen & Gynäkologinnen in Erstaunen versetzte.
Und so weiter…
Für das alles bin ich sowieso dankbar; seit dem Ausbruch der Krankheit bzw. seit der Diagnose noch viel tiefer.

Die Diagnose hat das gute Verhältnis zu meinem Körper also nicht zu erschüttern vermocht. Obschon ich ja gestern zu erläutern versucht habe, warum der Unterschied zwischen Allergien & Autoimmunerkrankungen auch auf der psychologischen Ebene ein grosser ist:
Wenn der Körper an sich harmlose Stoffe aus Nahrungsmitteln oder der Umwelt fälschlicherweise als fremd erkennt & demzufolge bekämpft, ist die psychologische Komponente (verschwindend) klein. Der Feind ist etwas von aussen Kommendes: eigentlich ganz „normal“ – wie meistens. Es bringt einen wohl kaum psychisch durcheinander, dass man Tomaten oder Sellerie nicht essen darf oder dass die Nasenschleimhaut auf Chlor reagiert & anschwillt. (Das hatte ich als Kind & Jugendliche selbst.)

Wenn der Körper aber den Feind in körpereigenen Strukturen ahndet & gegen sich selbst vorgeht, ist die psychologische Komponente nicht zu unterschätzen. Sie kann Betroffene (noch ganz) aus der Bahn werfen: Vermeiden funktioniert nicht, verzichten funktioniert nicht, ein paar Wochen ausharren funktioniert nicht. Angreifer & Angegriffene sind beide in meinem Körper, sind mein Körper. Die Autoimmunschlachten finden ungesehen statt. Meistens. Und unbemerkt – ausser von den Betroffenen. Das Blut, das dabei fliesst, gehört dem Körper, der die Schlacht ausgelöst hat. Er richtet sich selbst zugrunde.

Nicht ganz ohne…

Die kältere Jahreszeit fordert mich jeweils zusätzlich, weil ich durch die Immunregulierung anfälliger für Infekte bin und weil das Risiko, dass die Hautprobleme wieder ausgelöst werden, erhöht ist. Kälte & Trockenheit können sogenannte Trigger (Auslöser) sein. Wenn die Lippen (wie jetzt) Risse bekommen, werde ich aufmerksam. Sie können durch die trockene Luft bedingt sein, sie können durch Medikamente verursacht oder verstärkt werden – sie können durch verschiedene Faktoren hervorgerufen worden sein. In jedem Fall sind sie aber ein Zeichen, dass die Haut auf etwas reagiert. Darum ist während der kälteren Jahreszeit jeweils besondere Aufmerksamkeit geboten. Es muss ja nicht wieder so schlimm werden wie in jenem September, als mein Dermatologe, der damals schon über das Pensionsalter hinaus (!) war, meinte, er habe in seiner ganzen Tätigkeit nicht oft einen so heftigen Ausbruch gesehen.

Das Beitragsbild habe ich in Passchendaele aufgenommen – an einem goldenen Herbsttag vor genau zwei Wochen. An trüben Tagen wie heute habe ich solche Bilder besonders gerne. Von dem Schrecken, der im Oktober 1917 dort geschah, machen wir uns kein Bild. Das Blut, das floss, floss für nichts. Wie in jedem Krieg: für nichts.

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