Die erste Kerze

Heute ist es auf den Tag zwei Jahre her seit der Operation der Nasenscheidewand.
Es war ein Donnerstagmorgen und ich war nervös.
Ich hatte Angst vor der Vollnarkose, da die Belastung für den Körper einen erneuten Krankheitsschub hätte auslösen können.

Das hätte gefährlich werden können.
Denn ich hatte vom März an bis in den Juni hinein eine Kortisonbehandlung gehabt, dann brachen im September (wie schon erwähnt) die Hautprobleme so heftig wie nie zuvor aus und ich wäre körperlich alles andere als für einen dritten Schub in Serie gewappnet gewesen.
Doch die Operation musste sein.

Ich hatte sie sowieso schon zu lange hinausgezögert…
Die Nasenscheidewand war stark verkrümmt, sodass auf einer Seite kaum noch Luft durchging.
Auf der anderen Seite, die eigentlich dementsprechend hätte weiter werden müssen, freuten die Schwellkörper sich über ungewöhnlich viel Platz und machten sich breit, sodass auch dort fast kein Durchkommen für Luft mehr war.
Die Nase war zuerst jeweils tagelang zu,
bald handelte es sich um Wochen,
später um Monate.
Zugleich wurden die dazwischen liegenden Zeitabschnitte, in denen die Nase frei war, immer kürzer.

Vom Oktober 2013 an
gingen die Durchgänge gar nicht mehr auf.
Ich brauchte mehrmals täglich diese Sprays,
um überhaupt atmen zu können
und
nicht das Gefühl zu haben,
alles sei völlig verstopft.
Mehr als 13 Monate lang
– ohne einen einzigen Tag Unterbruch.

Die Sprays trocknen die Schleimhäute letztlich noch mehr aus;
das wusste ich schon.
Aber ich hatte Angst, dass die Vollnarkose einen erneuten Krankheitsschub auslösen könnte…
Und diese Angst war grösser als der Wunsch, wieder ohne Nasensprays atmen und leben zu können.

Bis eine andere Angst aufkam: nämlich diejenige, dass die Sprays ja vielleicht auch Krebs auslösen könnten, wenn man sie so exzessiv benutzt. Also ging ich zu einem Hals-Nasen-Ohrenspezialisten in Winterthur; er stellte die starke Verkrümmung der Nasenscheidewand sowie die Reaktion der Schwellkörper fest und riet mir dringend zur Operation. Ich hatte Vertrauen zu ihm und entschied mich also für die Operation:
meine erste, wenn wir von derjenigen, die ich als dreimonatiges Baby hatte, absehen.

Der Arzt operierte jeweils am Dienstag in einer Klinik und am Donnerstag in seiner Praxis;
wir legten den 27. November, eben ein Donnerstag, für die Operation fest.
Am Vorabend rief mich der Anästhesist an und war schon am Telefon sehr sympathisch.
Bei der persönlichen Begegnung am folgenden Tag genauso.

Er fragte mich am Telefon unter anderem nach dem Gewicht. Wie schon einmal erwähnt, haben wir keine Waage zu Hause. Aber da mein Gewicht nicht gross schwankt, weiss ich es schon ungefähr und antwortete mit 62 bis 63 Kilogramm.

Kurz bevor er mir das Narkosemittel verabreichen wollte, überfielen diese Ängste mich wieder und ich wurde plötzlich unsicher in Bezug auf das Gewicht: Wenn ich jetzt doch 61 Kilogramm wöge? Oder sogar nur 60? Wäre das problematisch?

Das kommt nämlich schon vor, aber nur wenn auch die Magenschleimhaut von Entzündungen betroffen ist und ich nicht viel essen kann. Das war damals zwar nicht der Fall; trotzdem überkamen mich Zweifel, die ich ihm zum Glück noch mitteilen konnte. Er beschwichtigte mich jedoch und erklärte mir, dass es auf zwei oder drei Kilogramm nicht ankäme.

Sowohl die Narkose wie auch die Operation verliefen unproblematisch.
Beim Aufwachen hörte ich eine Angestellte meinen Namen sagen. Mir war kalt und ich war froh, dass Mustapha anwesend war. Er hatte einen speziellen Zettel für hinter die Windschutzscheibe erhalten und das Auto gleich vor der Praxis in der Altstadt parken dürfen (wo Fahrverbot ist).

Der junge Herr, der vor mir operiert worden war, lag auch noch im Aufwachraum und konnte kurz vor mir gehen.
Später begegneten wir einander einmal bei einer der Nachkontrollen, sahen und lachten einander an und dachten wohl beide das Gleiche:
„Du siehst ja gar nicht so schlecht aus…“ 😄

Ich habe
alles in Bezug auf diese Operation
in guter Erinnerung.
Dem Arzt brachte ich bei der Nachkontrolle kurz vor Weihnachten ein kleines Geschenk mit und gab ihm eines für den Anästhesisten, der mir später ein E-Mail schrieb, sich bedankte und sich sehr über die Aufmerksamkeit gefreut hatte.
Das E-Mail habe ich immer noch.

Ich habe,
auch wenn es nicht einfach war,
alles
in guter Erinnerung.
Alles
ausser etwas: nämlich das Verhalten der Kollegin,
die fand,
eine planbare Operation
müsse
in den Ferien
stattfinden.
Wir erinnern uns: Hals-Nasen-Ohrenspezialisten feiern keine Weihnachten…

Das Verhalten der Kollegin,
die fand,
ich hätte die Zeit ungünstig gewählt
und
würde ihr und den anderen
in einer ohnehin schon stressigen Zeit
noch mehr Stress machen.

Interessant:
Bei uns wird niemand gezwungen,
eine Stellvertretung zu übernehmen.
Nur angefragt
– that‘s it.
Wenn man keine Kapazität hat,
sagt man nein.
Ganz einfach.
Das wird respektiert.

Und übrigens:
Wenn man Kapazität hat und ja sagt,
macht man es nicht umsonst.
Man erhält Lohn dafür.
Guten Lohn sogar: einen Lohn, von dem die meisten nicht einmal zu träumen wagen.
Ja, sagen wir es doch offen.
Alles andere ist Heuchelei.

Die Kollegin,
die sich dafür interessierte,
wer denn finanziell für meinen Ausfall aufkomme.
Echt jetzt?!
Sie selbst vielleicht?!
Abzug von ihrem Lohn etwa?!
Eben…!

Auch darum war diese Frage
so unendlich daneben,
dieses Verhalten
so unendlich dumm.
Auf verschiedenen Ebenen.
Am dümmsten auf der menschlichen.

Der (zusätzliche) Stress an Schulen in der Weihnachtszeit ist vergleichbar mit dem (zusätzlichen) Stress, den die meisten in dieser Zeit haben und für den die meisten selber verantwortlich sind. Aber es ist halt einfach und bequem, sich quasi als „Opfer“ zu sehen. Auch eine Art Heuchelei
– ein Zeichen einer hektischen und oberflächlichen Gesellschaft;
ein Zeichen, das mit der Botschaft und dem Sinn der Advents- und Weihnachtszeit wenig zu tun hat.

Und vor allem:
Er ist nicht zu vergleichen
mit der dringenden Notwendigkeit einer Operation,
mit den Ängsten, dass die Narkose die Autoimmunerkrankung dadurch gleich wieder auslösen könnte
– zu einem Zeitpunkt,
wo ich wirklich nicht wusste,
wie ich einen dritten Ausbruch in Serie körperlich durchgestanden hätte.

Es liegen Welten
zwischen
dem unseligen Weihnachtsstress
und
dieser Angst:
die eine Welt, die sich der Lächerlichkeit preisgab;
die andere Welt, in der ich mich – damals – verloren und verletzt fühlte.
Verletzt für immer,
verloren nur für kurze Zeit.
Zum Glück nur für kurze Zeit.

Die Verletzung wird nie ganz verschwinden.
Die menschliche Dummheit,
die dahintersteckt,
ist unerklärlich.
Egal,
was eine Person selbst im Leben zu tragen hat.

Denn wir leben hier in einem privilegierten Land,
wo jede(r) Hilfe und Unterstützung bekommen kann,
wenn er oder sie diese sucht und braucht;
es gibt keinen Grund,
eigene Probleme, Unzufriedenheiten, Unerfülltheiten und Neid auf andere zu übertragen und zu überwälzen,
die aus irgendeinem Grund gerade „geeignet“ dafür sind.
Wie kann man nur
so unüberlegt
und
so hinterhältig
handeln?!
Wie kann man nur
so feige sein
und
eine zweite Kollegin mit ins Boot holen,
weil man sich alleine dann vielleicht doch nicht traut?!

Antworten
auf diese Fragen
werde ich wohl nie erhalten.

So,
wie die körperlichen Wunden für immer Spuren hinterlassen haben,
und ich weiss,
dass weitere dazu kommen werden,
hinterlassen auch die seelischen Verletzungen ihre Spuren.
Auch sie werden immer kleiner,
indem ich sie auszudrücken versuche;
auch sie werden sich einer Linie gleich,
die sich im Unendlichen verläuft,
irgendwo und irgendwann verlaufen und verlieren,
aber nie ganz verschwinden.
Ganz, ganz, meine ich.

Das überlebe ich.
Klar.
Ich habe schon anderes überlebt!

Zwei Kolleginnen,
die sich total daneben benahmen,
sind eine sehr kleine Zahl
im Verhältnis zu den Menschen,
die mir geholfen haben und helfen.
Eine Zahl, ja.
Als viel mehr kann und will ich sie nicht mehr betrachten
– eine sehr kleine Zahl,
die sich der Lächerlichkeit preisgab.

Heute ist auch der erste Advent.
Der Text passt vielleicht nicht so gut dazu.
Aber er ist ehrlich und gerade deswegen eben doch passend.
Der 27. November ist für mich halt vor allem die Erinnerung an diese Operation.
Und an das, was sie mit sich brachte.

Wir zünden jetzt gleich die erste Kerze an
und
ich danke damit allen,
die wissen,
wofür sie steht,
und danach leben.

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