So schnell

Vor drei Monaten starb Nahom. Am 14. September, diesem letzten sonnigen & heissen Sommertag. Er sprang von einem Baum in den Rhein, schlug dabei auf einem Boot auf, verletzte sich schwer & ertrank.
Furchtbar.
So schnell kann es gehen. Immer & überall, für uns alle.
Ich hatte vor, heute mit den Kindern auf sein Grab zu gehen & eine Kerze anzuzünden, aber das ging nicht. Ich traue mich gar nicht zu schreiben, warum; vielleicht am Ende des Beitrags.

An einem 14. starb auch der damals siebenjährige Victor aus Seattle. An einem Hirntumor, gegen den keine Chance besteht. Auch keine kleine Chance. Nicht die allerkleinste. Am 14. Mai 2014. Ich hatte ihm zuvor mehrere Pakete mit kleinen Geschenken & einem Brief geschickt. Ich weiss, dass er Freude hatte an meinen gelben Paketen, den „yellow boxes“.

Als ich damals las, dass er gestorben war, sass ich im Zug von der Arbeit nach Hause. Es ging mir selbst auch nicht gut; ich war mitten in einer Therapie mit Kortison & weiteren Medikamenten. Ich hatte gewusst, dass er sterben würde; ich hatte mich ziemlich eingehend über DIPG informiert. Ich bin zwar eine optimistische Person, aber auch eine realistische. Idealismus ist schon bei meiner eigenen Erkrankung fehl am Platz, geschweige denn bei DIPG. Da ist er gleichzusetzen mit blankem Hohn. Der Mutter zu sagen, sie solle ihrem todkranken Jungen einfach mehr Bananen zu essen geben oder sie habe in der Schwangerschaft etwas falsch gemacht, ist wie Mord.

Nicht zu überbieten an Dummheit auch: Dummheit auf der wissenschaftlichen & vor allem auf der menschlichen Ebene. Scharlatane, von denen es mehr als genug gibt, haben bei ernsthaften Erkrankungen gar nichts verloren. Bei innerhalb kurzer Zeit tödlich verlaufenden wie DIPG machen sie nichts besser, dafür alles schlimmer, noch schlimmer. Da helfen keine Falschheiten, da hilft Menschlichkeit. Mit den sechs gelben Paketen & den Briefen versuchte ich zu tun, was ich von der fernen Schweiz aus tun konnte, und fühlte mich dennoch hilflos.

Als ich las, dass er gestorben war, fing ich an zu weinen, stieg bald aus, holte N. bei Monika, mit der ich letzthin Kaffee trinken & Kuchen essen war, ab & weinte bei ihr dann richtig. Es war ein schrecklicher Abend; ich war einfach nur „froh“, dass mein Mann sich um die Kinder kümmerte.
Es war ein einschneidender Tag für mich; ich verlor einen Teil meines Glaubens, einen Teil meines Vertrauens, einen Teil meiner Eingebundenheit. In mir kam so vieles ins Wanken, als ich mich mit Victors Diagnose auseinandersetzte, während er elf Monate litt, und als er starb.

Noch einmal kam in mir im letzten Januar vieles ins Wanken, als ich mein eigenes Leben aufs Spiel setzte, was dumm war, sehr dumm. Und das meine ich genau so: ehrlich & ernst. Ich würde es nie wieder tun, es war die Hölle. Ich möchte allen, die diesen Text lesen & vielleicht einmal in eine ähnliche Situation kommen oder vor ähnliche Fragen gestellt werden, mitteilen, dass es sich nicht lohnt. Für nichts. Wir bilden uns das ein, wir machen uns etwas vor, wir machen uns sogar oft sehr viel vor; aber es lohnt sich nie, das eigene Leben für etwas, was im Grunde gar nicht ist, aufs Spiel zu setzen.

Die Pakete aus Seattle, die ihr auf dem Beitragsbild seht, kamen gestern bei uns an. Schon letztes Jahr bestellte ich ein paar dieser so ganz eigenen Andenken an Victor & beschenkte zu Weihnachten & an Ostern Freundinnen & Bekannte damit. Die Kugeln & die Gläser sind in den Farben Königsblau, Grün & Violett gehalten: Königsblau war Victors Lieblingsfarbe, Grün steht für seine Liebe zur Natur & Violett für die ewige Verbundenheit zwischen ihm & seiner drei Jahre älteren Schwester Celestine. Sie sind wunderschön, die Kugeln & die Gläser.

Die kleinen Bücher erzählen darüber, wie wir einander Gutes tun & den Tag mit Freude füllen können. Sie eignen sich zum Vorlesen, Erzählen, Anschauen, Nachdenken… – mit Kindern zu Hause oder im Klassenzimmer. Ich schenkte T.s Hauptlehrerin & seinem Teamteaching-Lehrer schon vor den Sommerferien je eines.

T. erzählte am Montag, sein Lehrer sei nicht in der Schule gewesen, worauf ich dachte & dann auch sagte, dass er vielleicht an der Beerdigung seiner Grossmutter sei. Ich habe mir überlegt, wie ihr Tod für ihn wohl sei & ob die Vorweihnachtszeit die Gefühle vielleicht verändere, verstärke. Ich bewundere ihn sehr für sein musikalisches Talent; er singt sehr gut & im Pianospiel ist ihm „nur“ Elton John noch überlegen. 🙂

Nach drei Tagen ganz zu Hause & zwei Tagen abgesehen von zwei kurzen Einkäufen am Wohnort ebenfalls zu Hause war ich heute Morgen in Zürich: Die vorweihnachtliche Stimmung an der Bahnhofstrasse wollte ich mir nicht entgehen lassen. Im „Manor“ verlor ich meine Mütze. Sie ist orange, ziemlich knallorange; T. findet sie darum besonders „cool“. Ich habe die gleiche noch in meiner Lieblingsfarbe, Violett, aber ich möchte die andere auch gerne wieder haben. Also fuhr ich ins fünfte Stockwerk zum Kundendienst. Dort standen mehrere Leute an; ich beschloss sogleich, mich nicht aufzuregen. Ebenfalls sogleich beschloss ich, ab sofort immer ein gutes Buch oder eine interessante Zeitschrift dabei zu haben, um Wartezeiten sinnvoll nutzen zu können. Im Internet zu surfen, ist nicht wirklich befriedigend.

Irgendwann kam ich an die Reihe & erhielt den Rat, heute Abend anzurufen & mich zu erkundigen, ob die Mütze abgegeben worden sei. Sie ist jedenfalls unübersehbar!
Vielleicht musste es ja so sein, denn der Kundendienst verkauft Tickets für verschiedene Anlässe: Ich kaufte vier Karten für „Mary Poppins“ sowie zwei für das Konzert am 7. Juli in Kestenholz, bei dem Anna Rossinelli & Chris de Burgh auftreten werden. Die Angestellte, die mich bediente, ist noch sehr jung – unter 20, schätze ich. Von Chris hatte sie zuvor noch nie was gehört; ich musste ihr den Namen auf ein Zettelchen schreiben. Sie gab sich alle Mühe, hatte Geduld & entschuldigte sich fast bei mir… Ich sagte ihr, das sei ihr junges Alter & überhaupt kein Problem.
Neben ihr brauchte ihr Kollege mit dem albanischen Namen ebenfalls viel Geduld; ich fand sein freundliches Wesen & seinen Gesichtsausdruck, der etwas Liebes ausstrahlte, sehr wohltuend in der Hektik des Kaufhauses. Ich nahm dann gleich noch einen Gutschein für meine Mutter & bin jetzt damit & mit den Karten gar nicht so „schlecht daran“ für Weihnachten…

Auch das wiederum musste wohl so sein, denn am Mittag bin ich bei uns zu Hause die Treppe hinuntergestürzt. Ich traue mich kaum, das zu schreiben, weil ja schon wegen der Erkrankung & der Therapien ständig etwas ist.
Verletzungen hatte ich früher so gut wie nie; jetzt habe ich schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate Verletzungen.
Gut, das musste ja irgendwann passieren & ich bin selber schuld… Ich warne oft die Kinder, dass sie auf der breiteren Aussenseite der Treppe gehen sollen, achte selbst aber zu wenig darauf, obschon ich am meisten müsste, da ich die längsten Füsse habe.
Ja, das musste irgendwann passieren & ist jetzt im denkbar ungünstigsten Moment passiert. In Anbetracht dessen, was ich bei & mit Herrn K. erlebt habe, kann ich vielleicht „froh“ sein, dass beide Kinder am Tisch sassen & „alles“ gesehen & mitbekommen haben. (Rücken-, Kopf- & andere Schmerzen sieht man ja auch nicht… ) Beide waren sehr erschrocken & versuchten zu helfen, aber T.s Massage war nicht gerade das, was ich brauchte.

Der Schrecken sass tief & ich spürte eine ähnliche Angst wie am 30. Januar: eine tiefe Angst, eine Angst vor dem Absoluten, dem Unwiderrufbaren, dem Unwiederbringbaren. Ich war zwar nicht bewusstlos & es ging dieses Mal nicht um Leben & Tod, aber für ein paar Sekunden hatte ich natürlich Angst, eine ernsthafte Rückenverletzung zu haben. Als ich aus der Erstarrung erwachte, merkte ich dann aber schnell, dass ich noch alles bewegen konnte, und war vorerst einmal erleichtert.

Es ist ständig etwas… Und auch wenn das jetzt nichts mit der Autoimmunerkrankung zu tun hat, ist es halt doch so, dass die kortisonbedingten, schwerwiegenden Schlafprobleme & der massive Schlafmangel zu verminderter Aufmerksamkeit führen, die wiederum zu diesem Sturz geführt haben könnte…
Das lässt sich zwar nicht beweisen; das ist letztlich auch nicht wichtig. Trotzdem ist schon die reine Vermutung für mich kein einfacher Gedanke, weil ja sonst schon viel mit dieser Krankheit zusammenhängt. Schlimm ist, wenn Leute das nicht verstehen & sich dementsprechend verhalten. Das habe ich auch erleben müssen – und das war schmerzhafter als die Schmerzen, die ich jetzt fast überall von diesem Sturz habe & die ich nicht einfach mit Schmerzmitteln lindern kann.
(Weil, wie schon einmal erwähnt, gewisse Wirkstoffe in Schmerzmitteln einen Krankheitsschub auslösen können… – eine Art Teufelskreis.)

Ich habe keine Ahnung, wie das weitergeht, aber wenigstens bleibt der Blog spannend & abwechslungsreich! 😉

 

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