Niemand anders

„Ich kann mich bewegen, das ist die Hauptsache.“
Diesen Satz sagte ich zu mir vorgestern & gestern mehrere Male. Denn ich war an einen Punkt gekommen, wo ich mich fragte, wie ich jetzt auch das noch überstehen soll. Ich habe eine grosse Grundenergie, Geduld & verschiedene Ressourcen, aber irgendwann versiegt die Quelle. Das heisst, nein, sie versiegt nicht, aber sie braucht eine Pause.

„Ich kann mich bewegen.“
Es tut „einfach“ fast alles weh. Am meisten der rechte Arm (sehr praktisch…), aber auch beide Hände (vom Aufstützen beim Fallen), beide Schultern, der untere Rückenbereich, vor allem dort, wo die metallene Treppenkante sich hineingebohrt hatte, das rechte Bein & der Kopf. Es sind andere Kopfschmerzen als diejenigen, die ich seit den Kortisonbehandlungen manchmal habe; sie sind dumpf, während die kortisonbedingten pulsierend & drückend sind & ich schon verschiedentlich das Gefühl hatte, etwas würde platzen. Die jetzigen sind anders: eben dumpf, aber ebenfalls sehr unangenehm.

Die krankheitsbedingten Gelenkschmerzen sind durch den Sturz natürlich auch nicht besser geworden – im Gegenteil. Ehrlich gesagt weiss ich zur Zeit nicht, welche Schmerzen worauf zurückzuführen sind. Es überschneidet sich zu viel. Husten, Niesen & Naseputzen tun seit dem Sturz so richtig weh, sodass ich versuche, es möglichst zu vermeiden. Nicht ganz einfach… Und vor allem beim Naseputzen bin ich mit dem Vermeiden kein gutes Vorbild für die Kinder, zumal gerade T. da noch ein bisschen ‘was zu lernen hätte… 😉

Gestern Nachmittag fuhr ich mit dem Zug nach Zürich, was anstrengend war, weil ich nicht lange sitzen kann. Die Berührung der Lehne ertrage ich kaum. Autofahren geht ebenfalls nur für kurze Strecken. Auf dem Rücken liegen kann ich gar nicht, auf den Seiten wegen den Schultern ebenfalls nicht. Also schlafe ich seit Mittwoch auf dem Bauch. Wie früher immer… Aber auch daran muss ich mich zuerst wieder gewöhnen.
Ich hatte den Eindruck, dass die Schlafprobleme sich langsam bessern würden. Die Erkältung, die sich (wegen der chronischen Erkrankung) anfühlt, als ob sie eine Angina sei, und der Sturz mit den daraus resultierenden Verletzungen haben diese positive Tendenz vorerst wohl zunichte gemacht.

Wenn jemand mich berührte im abendlichen Passantenverkehr, tat es weh. Egal, wo die Person mich berührte: Es tat weh. Mit einer Frau stiess ich fast zusammen; das war mehr als nur Berühren & tat richtig weh, zumal es meine rechte Seite betraf. Sie entschuldigte sich jedoch sehr, was freundlich & nicht selbstverständlich ist. Es war ja nicht ihre Schuld.
Gut, sie hatte eine Einkaufstüte, ich hatte keine. Und mit dieser Tüte kam sie an mich heran, aber es war ja nicht wirklich ihre Schuld. Daher war es besonders schön, dass sie sich so entschuldigte. Das linderte zwar meine Schmerzen nicht, machte aber trotzdem viel aus. Weil man ja – wieder einmal (!) – nichts sieht… Ausser vielleicht, dass ich langsamer gehe. Aber das bemerken Leute, die mich nicht kennen, wohl kaum.

Ich könnte Schmerzmittel nehmen. Es gibt zwar Wirkstoffe, die ich nicht einnehmen darf, weil ich sie nicht vertrage oder sie einen Krankheitsschub auslösen könnten. Es gibt jedoch auch solche, die ich einnehmen dürfte. Aber ich setze alles daran, die Leber, die Nieren sowie den gesamten Organismus nicht mit noch mehr Medikamenten zu belasten.
Im Aushalten von Schmerzen bin ich erprobt: Die beiden Geburten haben mich optimal vorbereitet auf alles, was da kommen sollte, und mittlerweilen bin ich nicht nur im Aushalten, sondern auch im Überspielen von Schmerzen erprobt – sehr sogar. Und es ist mir lieber so, als noch mehr „Chemie“ auf meinen Körper loszulassen. Die „Chemie“ ist im akuten Schub ein Segen & die einzig wirksame Massnahme. Bei Feuerwehrübungen wirkt nur sie. Dafür will ich sie mir „aufsparen“, denn dafür werde ich sie immer wieder brauchen. Realistisch.

Sonst versuche ich, sie zu vermeiden, und habe wohl auch das Glück, dass meine Schmerzlatte weit oben liegt. Das stellen Angestellte in Praxen ab & zu fest; irgendwie tun diese Aussagen jedes Mal gut. “Sie ertragen aber auch noch viel.“, habe ich so oder ähnlich schon mehrere Male gehört. Dann habe ich jeweils davon erzählt, wie unsere beiden Kinder zur Welt gekommen sind, und wir haben zusammen gelacht. Auch das hat jedes Mal gutgetan.
Einmal wirkte das verwendete Narkosemittel für einen Untersuch nicht; ich blieb wach & verfolgte das Geschehen auf dem Monitor mit. Die Praxisangestellte fragte mich die ganze Zeit, ob ich das aushielte, und sagte dann eben den Satz, den ich nicht zum ersten Mal hörte: „Sie ertragen aber auch noch viel.“

Das war der letzte in einer Reihe von Untersuchen gewesen; kurze Zeit später erhielt ich die Diagnose. Auch das war an einem 14. gewesen: am 14. Februar 2014, am Valentinstag.
Die darauffolgende Therapie wirkte nicht und wir begannen im April mit Kortison, sodass ich, wie im letzten Beitrag erwähnt, mitten drin war, als Victor starb. Was sein Tod bei mir auslöste, hätte – theoretisch – jeden Tag durch den Tod von Kindern ausgelöst werden können. Theoretisch schon. In Wirklichkeit war es Victor.

Sein hübsches Gesicht, seine funkelnden Augen, sein neugieriger Blick. Seine besonders geformten Augenbrauen, seine nur schon auf Bildern sicht- & spürbare Lebensfreude, sein Interesse an allem, seine Leidenschaft. Seine Hingabe, seine Begeisterung, sein wacher Geist. Seine vielen Fragen, seine sprudelnde Energie, sein grosses Herz.

In Wirklichkeit war es Victor. Niemand anders.

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