1958 wie 2016

Wie schon einmal erwähnt, ist die Fahrt auf die andere Rheinseite eine geduldsmässige Herausforderung. Vorhin liess ich einen jungen Mann, der aus einer Seitenstrasse kam, einbiegen. Er dankte es mir mit einem breiten Lachen.

Vor ein paar Tagen fuhr ich einen Grossvater, der seinen Enkel zur Schule gebracht hatte, im Auto nach Hause. Er musste sich ein paar Lieder von Chris anhören und wir unterhielten uns über den Schulweg. Dann wünschte ich ihm einen schönen Mittag.

Letzte Woche zeigte ich einer etwas verwirrten Frau in Winterthur die Taschen, die sie offenbar suchte. Sie war darüber so glücklich, dass sie nicht mehr aufhören wollte zu reden. Ich hörte ihr zu.

Ich helfe gerne. Viel lieber, als dass ich über Sorgen spreche. Aber weil zu viel sich angestaut hat, schreibe und rede ich jetzt.

Der Vertrauensarzt hat mir ja schon beinahe ein Interview beschert und ich weiss gar nicht, was ich hoffen soll… Dass er gemerkt hat, dass ich alles durchschaut, dokumentiert und mit der Hausärztin und den Fachärzten besprochen habe. Oder dass er in sein Papier schreibt, mir gehe es gut, und ich mich weiter öffentlich dazu äussern kann.

Öffentlichkeit als Partner: der Titel der Dankesrede meines Lieblingsautors Max Frisch zur Verleihung des Literaturpreises der Stadt Zürich im Jahre 1958. Er meinte auf die Frage, warum ein Autor schreibe: „Um zu schreiben! Um standzuhalten sich selbst, um am Leben zu bleiben.“

Für mich auch, um standzuhalten denjenigen, die meinen, sie wüssten Bescheid, weil sie ja auch Eisenmangel und auch schon Infusionen (gehabt) hätten, weil sie auch schon einmal Kortison nehmen mussten, weil sie meinen, sich in der Medizin und der Pharmakologie auszukennen, weil sie alle, die krank, aber nicht (nur) im Bett sind, per se für verdächtig und unglaubwürdig halten, weil sie Ferndiagnosen stellen, die mit der Realität nichts zu tun haben, weil sie meinen, mit positivem Denken sei jedes Problem zu lösen, weil sie ja auch eine Allergie (?!) hätten… Usw. usf.

Um standzuhalten denjenigen, die kaum wissen, was es bedeutet, mit einer (schweren) chronischen Erkrankung zu leben, und die es einem zum Vorwurf machen, wenn es einem gelingt, damit sogar noch glücklich zu leben:

Glücklich, wenn ich Klavier spiele oder singe, wenn ich Musik höre oder lese, wenn ich mit einer Freundin essen gehe oder den Kindern beim Essen zuschaue: wie Naila mit dem kleinen Löffel die Erbsen in ihrem Teller zusammenschaufelt und sorgfältig eine nach der anderen auf den Löffel und danach in den Mund schiebt, wie sie voller Überzeugung in die Karotte beisst, wie Taieb in seinem Pastetchen einen Vulkan sieht und wie der Teigdeckel dann explodiert und die Pastetenfüllung als Lava freigibt, die wiederum die Karottenrädchen, die für ihn Dinosaurier darstellen, überflutet und vernichtet und ihr Aussterben einleitet.

Glücklich, wenn ich mich mit anderen Menschen austauschen kann, wenn Taieb im Mathetest 19 von 19 Punkten erreicht hat, wenn Naila sich wie ein Fisch (ihr Sternzeichen) auf die Schwimmlektion freut und ihr froschgrünes Badekleid, das ich ihr in den Sommerferien in Locarno kaufte, einpackt, wenn beide sich bei ihren Lieblingssendungen im Fernsehen amüsieren, miteinander diskutieren und sich an Verrücktheiten freuen.

Fernsehen oder lesen kann ich (wegen der Augenentzündung) zur Zeit nicht. Das linke Auge ist viel mehr betroffen als das rechte und ist gerötet. Es fühlt sich an, als ob ein Glassplitter darin sei, und das unangenehme Gefühl hinderte mich letzte Nacht zusätzlich am Schlafen.

Öffentlichkeit als Partner: eine der meistbeachteten Reden von Max Frisch.

Durch sein mutiges Vorgehen gegen häufig vertuschte Probleme geriet er immer wieder in Konflikt mit seinen Landsleuten. An der Schweiz beklagte er Konformismus, mangelnde Zivilcourage und Starrsinn. Weil er dagegen seine Stimme erhob, war er ein Geschenk für sein Heimatland: „Menschen wie Frisch hat die Schweiz nötiger als manches andere Land, wie immer die Diskussion über ihn ausfallen mag“, befand der Zürcher Spiegel.

Das war 1958.

Warum sind die Zeilen aktueller denn je?!

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