Identität

Am Nachmittag holte ich Taieb von der Schule ab. Er hatte Flötenunterricht gehabt und kam mit seiner Flötenlehrerin vom Schulhaus zum Parkplatz. Ich sah beide von weitem und fand es schön zu beobachten, wie sie sich unterhielten. Darum rief ich ihn nicht, sondern wartete, bis er mich entdeckte und auf das Auto zugerannt kam. Er sagte mir, er brauche 28 Franken, um sein Flötenbuch zu bezahlen.

Stimmt – das hatte ich vergessen. Ich gab ihm 30 Franken; er rannte zu seiner Flötenlehrerin, die bereits am Abfahren war, zurück, hielt sie auf, gab ihr das Geld, kam mit dem Zweifränkler zurück und erzählte mir, sie habe gesagt, ich sei super. Das tat gut. Ich hatte ja schon wieder etwas vergessen.

Ich weiss: Das ist nicht schlimm und geht anderen auch so. Ich weiss aber auch: Das war früher anders und wäre auch jetzt anders, wenn ich nicht immer wieder starke Medikamente hätte nehmen müssen, wenn die durchschnittliche Schlafdauer nicht halb so hoch (oder weniger) wäre, wie sie sein müsste, wenn ich nicht oft grössere Sorgen hätte, als ob ein Buch zu bezahlen, ein Formular auszufüllen oder ein E-Mail zu beantworten sei.

Letzteres geht vor allem meinen ehemaligen Arbeitgeber an. Der hat es nämlich tatsächlich fertiggebracht, mir dies vorzuwerfen. Wirtschaftsschule KV Winterthur.

Warum das Thema mich beschäftigt: Ich bin eine gewissenhafte, pflichtbewusste und zuverlässige Person. Und ich war immer schnell. Schnell und gut. Sehr gut sogar.

Mein Lizentiat hielt ich mit 25 in den Händen. Das ist in der Schweiz früh; mit dem Auslandjahr, in dem ich nicht studiert hatte, sogar sehr früh. Fünf Noten stehen in meinem Abschlusszeugnis: eine 5 und viermal eine 6. (Für die Deutschen: 6 ist bei uns die beste Note.)

Das schreibe ich hier nicht, weil ich mir etwas darauf einbilde. Überhaupt nicht. Ich habe meine Schwächen und bin zum Beispiel handwerklich unbegabt und ungeschickt.

Ich schreibe es, weil ich im Blog ja auch den Menschen, die mich nicht (gut) oder noch nicht lange kennen, zeigen möchte, wer ich bin. Denn ich bin auch diejenige, die sich bis 37 nicht einmal traute, den Telefonhörer in die Hand zu nehmen, um am Arbeitsplatz anzurufen, wenn ich krank war. Mit 37 dann zum ersten Mal.

Mit 37 zum ersten Mal.

Mit 37 war die zweite Schwangerschaft seit über einem Jahr vorbei. Also war die Autoimmunerkrankung längst ausgebrochen. Ausgelöst durch die grossen Hormonschwankungen in der Schwangerschaft. Das habe ich ja auch schon erläutert.

Dafür kann ich nichts, andere werden auch schwanger. Für die ungünstige Konstellation von Genen, die für die Veranlagung für Autoimmunerkrankungen verantwortlich ist, kann ich ebenso nichts. So, wie alle anderen Betroffenen auch nichts dafür können.

Darum sind Behauptungen in der Art von „ich hätte nicht tun wollen, was ich nicht getan habe“ demütigend und erniedrigend. Ich konnte nicht. Zwischen „können“ und „wollen“ gibt es einen bedeutenden Unterschied.

Na ja…, letztlich machen solche Erfahrungen stark. Und man weiss – um mich mit den Worten der ebenfalls von Autoimmunerkrankungen betroffenen Münchner Sängerin Susanne Augustin auszudrücken – wen man noch im Leben haben will und wen nicht (mehr). Diese Klarheit schafft Raum für Neues und für viel intensivere Beziehungen.

Taieb hatte ich von der Schule abgeholt, weil er am Samstagnachmittag an die Geburtstagsfeier eines Schulkameraden eingeladen ist und wir zusammen ein Geschenk kaufen gingen. Im Auto hörten wir das neue Album von Chris. Es gefällt mir immer besser. Manchmal ist das so. Die Lieder, die über das Schicksal von Flüchtlingen berichten, berühren. Und die eigenen Sorgen werden relativiert.

Ja, diese Menschen haben alles verloren. Wir sollten uns ab und zu Zeit nehmen und uns vorstellen, wie es für uns wäre, wenn wir alles verlieren würden. Wo wir dann wären. Wer wir dann wären. Was uns noch am Leben hielte.

Ich war in diese Gedanken versunken, als Taieb anfing, sich auf dem Rücksitz mit einem Insekt zu unterhalten: „So, du kleines, grünes Insekt, was machst du denn hier im Auto? Du möchtest sicher hinaus.“ Er wartete, bis wir neben einer Wiese vor einer Ampel stehen bleiben mussten, öffnete das Fenster und liess seinen fliegenden Freund hinaus.

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