Weitsicht

Wie viel Freizeit ich in Wartezimmern verbracht habe, könnte ich schon gar nicht mehr ausrechnen. Ich habe versucht, die Zeit zu nutzen, und jeweils gelesen. Liedtexte. Bücher. Zeitschriften. Keine Frauen- oder Klatschzeitschriften, sondern den „Beobachter“.

Er beobachtet nicht nur, sondern deckt auf, schreibt darüber und lässt nicht locker. So nötig, wie die Schweiz einen zweiten Max Frisch hätte, so nötig hat sie den „Beobachter“. Er beob-ACHTET auch gewisse Gut-ACHTER.

Heute Morgen hatte ich wieder einen Termin für Fussreflexzonenmassage. Ich sagte der Therapeutin nichts von meinen Befürchtungen, die gestern aufgekommen waren. Doch prompt nannte sie am Ende der Behandlung das Organ, von dem ich gestern dachte, dass erneut Entzündungen aufkommen könnten. (Wie schon erwähnt, können bei „meiner“ Erkrankung, die in der Fachliteratur als schwere Erkrankung bezeichnet wird, innere Organe, die Augen, die Gelenke sowie weitere Körperteile betroffen sein.)

Ich war ganz froh, dass ich danach gleich wieder Programm hatte und abgelenkt war. Taieb hatte sich nämlich gewünscht, dass ich wieder einmal auf Schulbesuch käme, und da wir um 12 Uhr sowieso das Probezeitgespräch für die Begabtenförderung hatten, besuchte ich die beiden Lektionen zuvor den Unterricht. Das gefiel mir sehr gut.

Taieb hatte eine Geschichte über einen Vogel, der nach Marokko flog und dort im Palast des Königs ein goldenes Zimmer und silbernes Badezimmer bekam, geschrieben. Im Englisch wollte er mir nicht glauben, dass man „five“ und nicht „fife“ schreibt und dass seventy-seven einen Bindestrich hat. Seiner Lehrerin glaubte er es dann. Das ist die Hauptsache. 😉

Das Gespräch verlief wie erwartet erfreulich. Die Begafö-Lehrerin hatte sich notiert, dass er sehr aufmerksam und engagiert sei, ihn die „Warum-Fragen“ umtreiben würden und dass das zu Hause sicher anstrengend sein könne. Ja, das kann es tatsächlich sein. Aber auch mich interessieren die „Warum-Fragen“ vor allen anderen Fragen.

Meine Dissertation schrieb ich nie zu Ende. Denn der Professor fand, wir seien Linguisten und keine Ärzte und sollten darum „Wie-Fragen“ und keine „Warum-Fragen“ stellen… OMG – wie langweilig…! 🙉 🙈 🙉

Ich kündigte meine Stelle an der Uni, brauchte einen Tapetenwechsel und reiste nach Tunesien. Die Woche in Hammamet würde ein Buch füllen… (Und ja, sonst gäbe es jetzt keinen Taieb, der mich mit seinen Fragen manchmal an meine Grenzen bringt…)

Abgesehen davon gibt es ja leider (wie ich feststellen musste) auch Ärzte, die sich viel lieber „Wie-Fragen“ stellen: Wie kann ich bagatellisieren? Wie kann ich manipulieren? Wie kann ich drei Stunden mit sinnlosen Fragen und noch viel sinnloseren Untersuchungen füllen? Wie gestalte ich den Gesprächseinstieg in meinem Verhör?

Zum Beispiel zugeschnitten auf den Beruf: „Heute sagt man nicht mehr Matura, oder?“ Häää?! Ah ja, Sie haben recht, heute sagt man Bachelor oder Master. Die Bologna-Reform auf Gymnasialstufe…

Bildungstechnisch sind Sie offenbar nicht im Bild. Ein bisschen komisch, aber nicht weiter schlimm. Dass Sie es als Mediziner ebenfalls nicht sind, ist hingegen verwerflich.

Pia dankte mir vorhin für mein Geschenk aus der Bäckerei. Sie hütet grad den Hund der anderen Tochter und Naila schwebt auf Wolke sieben. Coco ist mittelgross und hat graues, gekraustes Fell und einen liebenswerten Gesichtsausdruck.

Wenn man etwas nicht macht, will man vielleicht nicht. Es ist aber genauso möglich, dass man nicht kann. Es gibt Leute, die meinen, was jemand nicht mache, wolle er oder sie nicht machen. Auf die Idee, dass sie oder er nicht kann, kommen sie nicht einmal, geschweige denn denken sie darüber nach. Wenn es einem gesundheitlich wirklich schlecht geht, kann man oft nicht, auch wenn man noch so wollte.

Auch aus dieser Erfahrung heraus kann ich Leute, die sich über eine Erkältung oder Kopfschmerzen beklagen, gleichzeitig aber bei der Arbeit tip top funktionieren, immer gut vorbereitet sind und gute Arbeit abliefern, in diesem spezifischen Punkt nicht ernst nehmen. Wenn es einem nämlich wirklich schlecht geht, kann man nicht (mehr) viel leisten. Und man hat keine Lust, über die Krankheiten zu sprechen und sich damit wichtig zu machen.

Man fühlt sich einfach sehr, sehr schlecht und einsam, wenn man anderen dabei zuhören muss und sieht, wie sie gleichzeitig immer alles pünktlich, gewissenhaft und vollständig auf die Reihe kriegen. Das ist möglich bei harmlosen Beschwerden. Nicht aber bei ernsthaften Angelegenheiten.

Mein Dank geht an alle, die diesbezüglich Weitsicht zeigen. Und an Karina, dass Naila jederzeit zu Alessia kommen und sich nach den Hausaufgaben erkundigen, ein Buch ausleihen oder ein Blatt kopieren kann. Es sind die kleinen Nöte und die grossen Fragen im Leben, die eine Freundschaft ausmachen. Vielleicht müssten wir uns alle häufiger daran erinnern und danach leben.

„Yes, it’s such a long, long way from here to Bethlehem.“

 

 

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