Tierisch

Am Morgen lief am Radio ein Lied, in dem der Sänger das Leben in der Gegenwart besingt. Er schaue zwar zurück, aber er lebe heute. In seinem Dialekt reimt sich das so schön: „Ich luege gern zrügg, aber lebe tuen i hüt.“

Naila sass auf der Toilette. Sie war noch etwas verschlafen und wortkarg, hörte aber aufmerksam zu. Dann fragte sie erstaunt: „Mama, warum lebt de Ma nur hüt?“

Ich versuchte, ihr zu erklären, dass er nicht nur heute lebe und was er damit meine. Die Erklärung wäre ja eigentlich ganz einfach gewesen: „Er möchte so leben, wie ihr Kinder lebt.“

Im Hier und Jetzt. Im Moment. Etwas Wunderbares, die Essenz des Lebens. Was soll ich nur sagen über eine Gesellschaft, die von Anfang an mehr oder weniger systematisch damit beschäftigt ist, den Kindern diese wunderbarste aller Eigenschaften auszutreiben?!

Unsere vollgestopften Agenden, unser Gehetze, unser krankhaft gewordenes Strukturieren und Organisieren, unser unaufhörliches Hinterherrennen – was oder wem eigentlich?! – sind, von aussen betrachtet, lächerlich. Sehr, sehr lächerlich. Und ich nehme mich da auch gar nicht aus. Doch immerhin gehöre ich zu denjenigen, die diese Entwicklungen hinterfragen und immer wieder versuchen, nicht überall mitzumachen.

Als es mir gesundheitlich schlecht ging, hatte ich so eine Art Aussensicht und war schockiert, um es mal so auszudrücken. Ich weiss nicht, wie dieser Aussenblick zustande gekommen war; ich hatte ihn nicht gesucht. Ich hatte ihn einfach und fand, was ich sah, erschreckend.

Vielleicht konnte ich ihn haben, weil damals klar war, dass ich für längere Zeit krankgeschrieben sein würde. Weil auch kein „Fast-Streit“ mit der Hausärztin daran etwas geändert hätte. Weil ich auch in der Extremsituation noch versucht hatte, die Arbeit vor meine Gesundheit zu stellen. Das war so verantwortungslos gewesen – so sinnlos auch.

Wir fuhren Naila nach Lottstetten ins Reitlager. Ihre Freude, aus jeder Zelle spürbar, war ein Geschenk. Als wir beim Pferdegehöft um die Ecke bogen, sah sie bereits einige „ihrer“ Ponies und Pferde und rief freudig: „Balu!“ (Baluuu…) Dann meinte sie: „Carolina ist bestimmt schon da!“

So war es auch. Als wir weiter oben noch ein letztes Mal um die Ecke biegen mussten, fuhr uns Urs, Carolinas Vater, entgegen, liess die Fensterscheibe hinunter und sagte lachend: „Ich han scho denkt, dass ihr wieder die Letschte sind.“

Ich gab ihm recht und lachte mit ihm. Dann sah ich auf dem Empfangstisch jedoch noch drei weitere Namenskärtchen, die ebenfalls noch gebraucht wurden. Also waren wir doch nicht die letzten. 😅

Taieb war zu Hause geblieben und hatte seine Ferien gemütlich begonnen. Er schaute „Ice Age“. Ich habe all‘ die DVDs gekauft.

Als der Film fertig war, fuhren wir zusammen nach Frauenfeld in den Plättlizoo. Ich war schon oft im Zürcher Zoo und schon oft im Rapperswiler Kinderzoo, auch schon im Basler „Zolli“, aber noch nie im Plättlizoo gewesen. Für Taieb hingegen war es das zweite Mal. Er war in den Sommerferien vor zwei Jahren schon einmal dort gewesen – mit Urs und Carolina.

Ich erinnere mich, dass ich froh und dankbar war, da ich eine Prednisonbehandlung hinter mir hatte. Die war zwar verglichen mit der letzten kürzer und weniger intensiv gewesen, aber auch sie hatte Spuren hinterlassen. Darum verspüre ich den Menschen gegenüber, die etwas Gutes für unsere Kinder taten, sich Zeit für sie nahmen, sie irgendwohin mitnahmen, eine tiefe Dankbarkeit.

Im Plättlizoo bewunderte Taieb die Löwen (sein Sternzeichen), setzte alles daran, ein Lama dazu zu bringen, mich anzuspucken, staunte über das Kopfdrehen der Schleier- und Schnee-Eulen, erbarmte sich des Waschbären, der gefüttert werden wollte, wurde von zwei Hühnern durch den halben Zoo verfolgt, weil auch sie gemerkt haben mussten, dass er um gleichmässige und gerechte Verteilung seiner „Pop Corn“ bemüht war und also auch zwei gackernde und aufdringliche Hühner nicht einfach von sich weisen würde, und vergnügte sich am längsten mit den Berberaffen, deren Oberhaupt sich erfrechte, ihm die Tüte mit „Pop Corn“ durch das Gitter hindurch aus der Hand zu entwenden, um sich anschliessend alleine und unangetastet daran gütlich zu tun. 🙂

Es war kühl, aber die Sonne kam am Nachmittag hervor und liess die Blätter, die sich schon verfärbt haben, in ihrem Schein glänzen. Ich blieb stehen und schaute die hohen Bäume an. Die Äste und Blätter bewegten sich leicht im Wind.

Trotzdem strahlten sie eine Ruhe, eine Erhabenheit aus. Ich fragte mich, was ein solch majestätischer Baum über uns denken würde, wenn er denken und uns zuschauen könnte… Das frage ich mich öfters.

Die Frage, warum gewisse Menschen andere Menschen, die ihnen nichts zuleide getan haben, im Stich lassen, wäre nicht nur mit den falschen Bildern und falschen Urteilen, die sie wohl haben, zu beantworten, sondern auch mit ihrem Unvermögen: einem Unvermögen, mit den dunklen Seiten des Lebens umzugehen und sich auf die Realität und die Sorgen anderer einzulassen. Ein Mangel an Empathie. Eine Unreife auch.

So gesehen ist es wohl sowieso besser, wenn solche Menschen einen nicht weiter begleiten und dafür Raum für Neues entsteht – gerade auch im Austausch mit Menschen, die sich mit Schwierigem auseinandersetzen können und wollen.

 

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