Pulling the trigger

Das Programm für heute haben wir ändern müssen, was sich jedoch als positiv herausgestellt hat. Geplant war gewesen, dass ich mit Taieb ins „Connyland“ fahren würde, wo wir vor Kurzem zu viert waren und er mit mir alleine noch einmal hinfahren möchte, bevor es am 23. Oktober für ein paar Monate schliesst. Wir fahren morgen hin und Taieb freut sich schon.

Heute Morgen musste ich meine Augen einer „neuen“ Ärztin zeigen. (Meine Hausärztin ist in den Ferien.) Die Entzündung verstärkt sich jeweils am Abend und in der Nacht. Gestern Abend und letzte Nacht wurde sie so stark, dass ich Angst bekam.

Ich bin ziemlich abgehärtet, aber wenn es um die Augen geht, bekomme ich manchmal Angst. Ich traute mich kaum noch, das eine Auge – jetzt ist es das rechte – zu öffnen. Es war überall rot, tat weh, fühlte sich an, als ob Glassplitter darin wären, und sah aus, als ob sich irgendetwas darauf gebildet hätte. Ich konnte gar nicht mehr hinschauen und beschloss, endlich zur Ärztin zu gehen.

Das hätte ich schon früher tun können und sollen. Aber erstens habe ich öfters Augenentzündungen und weiss, dass sie meist nach drei bis vier Tagen abklingen. Und zweitens habe ich wohl so viele Arzttermine gehabt, dass ich sie gelegentlich hinauszögere oder ganz zu umgehen versuche.

Trotzdem kam ich einmal – nur einmal, aber das war einmal zu viel (!) – in die Situation, dass ich am Arbeitsplatz versichern musste, „nur im Notfall“ zum Arzt zu gehen.

->

* Darüber, dass ich trotz einer schweren chronischen Erkrankung am Arbeitsplatz weniger fehlte als ein(e) durchschnittliche(r) Arbeitnehmende(r) in der Schweiz, äusserte ich mich nie.

* Dass ich oft anwesend war, obschon ich nicht hätte arbeiten dürfen, verkündete ich nie.

* Dass ich mich selbst mehrmals in Gefahr gebracht hatte und was für ein schlechtes Gewissen ich deswegen den Kindern gegenüber immer noch habe und vielleicht für immer haben werde, weiss niemand.

<-

Mit der gestern beschriebenen Aussensicht auf unsere Gesellschaft kam auch eine Einsicht in mich selbst und für mich selbst. Sie kam unerwartet und war dennoch notwendig. Die Anspielung im Titel dieses Beitrags hat damit zu tun.

Im Song „Chain of Command“ geht es ganz konkret um eine Schlacht, um Krieg, um das Schicksal eines ganz jungen Soldaten, um eine Exekution und um Feigheit. Aber der Refrain des Songs lässt sich auch im übertragenen Sinn verstehen. Man kann im Leben an einen Punkt kommen, wo man das, was der Refrain besingt, tun muss – im übertragenen Sinn, versteht sich.

„Oh no, what can I do, someone has to pull the trigger, blame it on the Chain of Command, I will have to pull the trigger, blame it on the Chain of Command!“

Für die Augen habe ich Tropfen bekommen. Es kann sein, dass diese Entzündung nichts mit meiner Erkrankung zu tun hat und darum auch anders verläuft als diejenigen, die ich mir gewohnt bin. Es kann sein, dass die starken Medikamente, die das Immunsystem herunterfahren, damit es nicht mehr so heftig auf eigenes Körpergewebe losgeht, zu einer erhöhten Anfälligkeit für Infekte geführt haben und dass ich darum seit zwölf Tagen diese Augenentzündung habe. Es kann sein, dass diese erhöhte Anfälligkeit bestehen bleibt.

Immunsuppressiva muss ich höchstwahrscheinlich noch länger einnehmen. Ob ich um Imurek herumkomme, bezweifle ich, versuche es aber weiterhin. Das wäre dann noch einmal eine andere Kategorie. Kategorie „Chemotherapie light“.

Ich bin seit 14 Uhr im Hallenbad Wallisellen. Taieb durfte seinen Schulkameraden Finan mitnehmen. Er ist aus Eritrea und war ein Freund von Nahom. Ich habe ihm ermöglicht, dass er dem Fussballclub beitreten konnte, habe den administrativen Kram erledigt und fahre ihn jeweils hin- und zurück. Heute war es Taiebs Idee, bei Finan klingeln zu gehen, und da er nicht weit von der Ärztin, bei der ich war, wohnt, ging das im Gleichen.

Wir hielten vor seinem Haus. Taieb stieg aus und klingelte, Finan öffnete die Türe und ich bemühte mich, an diesem sonnigen Dienstagmorgen nicht allzu viele andere Autofahrer auf der engen Obergasse wütend zu machen. Also fuhr ich weg, liess sie durch, wendete auf dem kleinen Parkplatz weiter vorne und fuhr wieder zurück. Taieb stieg ein; auf der Obergasse muss alles schell gehen. Nicht immer mein Ding…

Wir würden Finan um 13 Uhr abholen. Er strahlte und die Freude in seinem Gesicht berührte mich. Wie Nailas Freude gestern, als wir uns dem Pferdegehöft näherten. Ich hatte das Gefühl, die freudige Anspannung jeder einzelnen Zelle von ihr zu spüren. Bei Finan war es etwas im Gesicht, ein Lachen und ein Ausdruck von Freude darüber, dass Taieb sein Wort gehalten hatte.

Ja, Taieb hält sein Wort.

Im Auto erzählte er Finan von meinen Plänen: „Mama will einen anderen Beruf machen. Sie will schreiben.“ Ich musste für mich lachen und redete nicht dazwischen. „Wirst du eine Schriftstellerin wie Astrid Lindgren?“

Ja, warum nicht.

Pippi Langstrumpf als Gegenentwurf zu unserer hektischen und oft egoistischen Gesellschaft. Warum nicht. Diese Frage hat mir doch schon einmal jemand gestellt…

Warum hat sie aus dem Mund eines Kindes eine diametral andere Bedeutung? Genau. Weil sie vollkommen ehrlich gestellt worden ist. Ehrlich, wahrhaftig und unschuldig. Ohne Hintergedanken.

„Someone“ im obigen Refrain wäre wohl meine Hausärztin gewesen. Sie hatte es versucht, aber ich hatte mich dagegen gewehrt. Also musste ich es ein paar Wochen später selber tun. Als „I“ im obigen Text. Im übertragenen Sinn, versteht sich.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert