Perlen

Noch einmal schön und vorwiegend sonnig gestern, heute sommerlich und wunderschön, noch einmal Sonne und Wärme aufgetankt für die kommenden Monate. Die Kinder meinten auf die Frage hin, ob Mallorca ein guter Entscheid war: „Ganz!“ Wobei es ja eigentlich kein Entscheid war. Aber Hauptsache, es hat ihnen gefallen.

Auch bin ich nach diesen acht Tagen zuversichtlich, dass ich die kälteren Monate gut überstehen werde und für allfällige Infekte oder Probleme mit den Gelenken genügend Mittelmeersonne gespeichert habe. Seit anfangs September nehme ich ja auch keine Immunsuppressiva mehr und hoffe, dass dies für eine nennenswerte Zeit so bleibt. Der Schlaf-/Wachrhythmus scheint sich ganz langsam wieder einzupendeln, aber bis er wieder mehr oder weniger „normal“ ist, wird das neue Jahr begonnen haben.

Die Augenentzündung spüre ich noch ein wenig, ein Brennen vorgestern sowie vorletzte Nacht, als ich dem Prasseln der Regentropfen zuhörte. Dreieinhalb Wochen sind lange im Vergleich zu den üblichen drei bis vier Tagen. Nicht nur von der Dauer, sondern auch von der Heftigkeit her verlief diese ganz anders, und natürlich frage ich mich, ob es etwas zu bedeuten habe. Und falls ja, was. Ein schwererer Verlauf als ursprünglich gedacht? Oder bloss ein Zufall? Ich weiss es nicht.

Die Augenärztin werde ich morgen Nachmittag fragen, aber auch mit anderen Ärzten/Ärztinnen darüber reden. Das muss ich auch wegen der anderen Symptome, die aufgetreten waren. Mit ihnen bespreche ich jeweils auch Ferien sowie Konzerte, wenn sie weiter weg sind. Der Fun-Factor ist wohl nicht ganz so gross, wie man sich vorzustellen geneigt sein könnte, wenn man geneigt sein möchte, es sich so vorzustellen.

In erster Linie geht es sowieso nicht um den Fun-Factor, sondern um die Faktoren Gesundheit und Lebensqualität. Danach beurteilen die Ärzte, danach handle ich. Nie werde ich vergessen, wie der Arzt mir sagte, natürlich solle ich ans Konzert auf Malta gehen, natürlich solle ich die Einladung annehmen, natürlich solle ich die Tage mit meiner Tochter geniessen.

Es würde mir guttun in der ganzen schwierigen Situation: Wir wussten damals schon, dass ein längerer Schub sich abzeichnen würde, wenn wir auch nicht mit acht Monaten gerechnet hatten. Er wusste es, ich wusste es, und ich sah die Herzlichkeit in seinem Gesichtsausdruck. Auf Malta war es dann für Ende Februar ungewöhnlich warm und sonnig: 26, 27 Grad vier Tage lang. Der einsame Himmel über der Insel war tiefblau. „I’m sailing beside you in your lonely sky.“

Wenn es mir gut geht und ich nicht müde bin, stehe ich über allem – ohne dass ich irgendetwas dafür tun müsste. Wenn ich müde bin und es mir nicht gut geht, beschäftigen mich gewisse Verhaltensweisen schon (noch). Das ist wohl auch gut so; denn nur wenn wir uns mit der Wirklichkeit auseinandersetzen, bleiben wir lebendig. Und die Wirklichkeit besteht nie, nirgends und für niemanden nur aus Erfreulichem.

Für mich zum Beispiel auch darin, dass es Leute gibt, die mir indirekt zu verstehen geben wollten, was ich zu tun und zu unterlassen hätte, wenn ich krank sei. Wie ich mich zu fühlen hätte. Wo und womit ich Zeit verbringen dürfe und wo und womit nicht. Was dazugehöre und was nicht. Wie lange es dauern dürfe. Leute, die von sich aus auf andere schliessen, obschon sie nicht einmal die Diagnosen kennen. Und wenn auch, hiesse dies nicht viel. Die Verläufe bei vielen Erkrankungen können höchst unterschiedlich sein und ein riesiges Spektrum von sehr milden bis zu schwersten Verläufen abdecken.

Nicht jedes Mal habe ich während einer kurzen Vollnarkose für einen Untersuch einen schönen Traum:

Manchmal bin ich danach den ganzen Tag müde; das ist dann wieder eine andere Art von Müdigkeit: wie weggetreten, wie wenn eine Watteschicht um mich herum wäre, vor allem um den Kopf, wie wenn ich gar nicht richtig mit der Welt verbunden wäre. Dann kann ich mich auch nicht konzentrieren und keine Arbeit sinnvoll erledigen. Letztes Mal musste ich die Gesangsstunde deswegen absagen.

Manchmal ist mir nachher auch schlecht. Und einmal hatte ich eben diesen wunderschönen Traum von einer Insel im Mittelmeer. Die Praxisangestellte war eine sehr herzliche Person und meinte lachend, alle würden etwas Schönes träumen. Mir gefielen ihr osteuropäischer Akzent und ihre Art, die Ernsthaftigkeit und Humor wie selbstverständlich verband. Sie sollte recht behalten.

Den gestrigen Nachmittag verbrachten wir an den von den Kindern geliebten Pools der Hotelanlage und in der kleinen, hübschen Bucht, die wir zu Fuss in drei Minuten erreichen. Die Wellen peitschten an die Felsen, und ich schaute und hörte ihnen lange zu. Plötzlich kamen zwei Schwestern angerannt, die eine rief „Ich springe!“, die andere rief zurück „Nöö, ich zuerst!“, rannte vorbei und sprang kopfüber vom Felsen ins hellblaue Wasser. Ich erschrak und hatte Nahom vor Augen.

Ich möchte noch im Oktober mit beiden Kindern wieder an sein Grab gehen und eine Kerze anzünden. Das Bild von Nahom verschwand wieder, und das deutsche Mädchen tauchte unversehrt auf. Ihre Schwester sprang hinterher, nicht kopfüber, sondern mit angezogenen Beinen und zugehaltener Nase. Als ich heute Morgen unseren Kindern davon erzählte, meinte Naila, an jener Stelle sei der Boden nicht aus Steinen, sondern aus Sand, in dem Muscheln stecken würden. Taieb war beeindruckt und ergänzte, er habe sie geöffnet und die Perlen herausgenommen.

Die Perlen: die habe ich auch gelernt, herauszunehmen. Das Konzert von Chris im Kaufleuten am nächsten Donnerstag wird eine solche Perle sein. Nebst mindestens zwei Arztterminen eine besonders glänzende und wertvolle Perle.

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