The ferryman

Mein Tag fing gut an und ging auch gut weiter: Der Moderator und die Moderatorin am Schweizer Radio sich über die Musik von Chris de Burgh und seinen bevorstehenden Auftritt in Zürich. Sie liebt „High on emotion“, er schwärmt für „Where peaceful waters flow“. Sie zu ihm: „Ja gäll, so mit Füürzüg i d Höchi und dänn…“

Genau so. Ausser dass ich nie ein Feuerzeug dabei hatte. Sie zu ihm: „Und wie findsch s neue, ‚Falling Rain‘?“ Dann wurde es gespielt, ich war glücklich, und die Kinder hatten auch nichts dagegen, dass ich sie nicht zum Pressieren antrieb, sondern das Lied immer und immer wieder sang. Später sagte mir jemand, sie habe das am Radio gehört und sogleich an mich gedacht. 🙂

Glücklich war ich auch gestern, der Tag war ein Geschenk. Ich wollte ein bisschen für mich sein und spazierte an der Bucht vorbei bis zum Ende der ins Meer ragenden Felsen. Ich suchte mir einen ruhigen Ort, wo ich mich hinsetzte und den tosenden Meereswogen zuschaute und zuhörte. Manchmal spritzten sie bis zu mir hinauf. (Auf dem Beitragsbild sieht man den Ort.)

Ich habe mehrere Bilder gemacht und werde sie in den kommenden Wochen als Beitragsbilder verwenden: Das Tiefblau des Wassers, die Sonnenwärme auf den Armen und den Beinen und die Wucht, mit der die Wellen an die Felsen peitschten, werden mich durch den Winter begleiten. Wenn ich ins Wasser schaute, sah und spürte ich dessen unbezwingbare Kraft.

Am Flughafen verabschiedeten wir uns von dem freundlichen und geduldigen Taxifahrer. Er zeigte auf Naila, lachte und warf mir einen vielsagenden Blick zu. Ja ja, ich weiss schon, was er meinte. 🙂

Den letzten Abend hatte sie noch einmal in vollen Zügen genossen, bei der Tanzshow sass sie zuvorderst und streckte ihre Füsse auf die Bühne. Ich sehe immer die Füsse ihres Papas in ihren Füssen. Ich hätte Lust gehabt, zu den bekannten Popsongs zu tanzen, aber lieber mit ein paar anderen zusammen: Tanzen bedeutet mir viel. Warum ich nicht immer, wenn ich möchte, tanzen kann, habe ich einmal geschrieben. Aber wenn ich kann, was ja zum Glück mehrheitlich der Fall ist, bedeutet es für mich Befreiung, Einheit und Lebensfreude.

Am Gate war die gleiche Dame wie schon beim Einchecken; sie erkannte Taieb wieder und begrüsste ihn mit den Worten: „Das war der Rashid.“ Rashid ist sein zweiter Name, der dritte Name meines Vaters. Taieb war der Name des Vaters meines Mannes. Nachdem er im Sommer 2005 in Casablanca gestorben war, am gleichen Tag wie meine Grossmutter 14 Jahre zuvor, machten wir ab, unseren Sohn Taieb zu taufen, falls wir einmal einen haben sollten – in einer Nacht am Strand in Hammamet. „I knew that this was more than a Shipboard Romance.“ Oder in meinem Fall: more than a holiday romance.

Zwei Jahre und drei Tage später kam Taieb zur Welt. Auch in der Nacht. Der dann gestern am Gate erstaunt reagierte, sodass ich ihm erklärte, die Dame habe ein gutes Gedächtnis für Namen und Gesichter. Er habe auch ein gutes Gedächtnis für Gesichter, meinte er dazu, er erinnere sich immer noch an das Gesicht von Luís. Luís war ein Schulfreund von ihm; derjenige, der zurück nach Spanien zog und den ich zweimal mit Taieb besuchen ging. Gestern am Gate wurde mir klar, dass wir wohl ein drittes Mal nach Redován reisen würden.

Im Flugzeug streifte Taieb fast ein paar Passagiere mit den beiden Fischernetzen über den Schultern. Er nannte dies sein Schultergepäck, das also nicht zum Handgepäck gehöre. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass er aufpassen müsse. Ein Mann, der auf einem Gangsitz sass, lachte mich an und meinte, im Flugzeug gebe es keine Fische. Ich lachte auch und erwiderte: „Doch, grosse.“

Dabei kam mir der Vertrauensarzt für die Versicherung, den ich ja einmal als (kleinen) Fisch bezeichnet hatte, wieder in den Sinn. Ich hatte wohl geahnt, dass er mir noch ein paar zusätzliche Erfahrungen im Leben bescheren würde. Macht nichts, ich bin bereit und ruhig; nach allem, was ich erlebt habe, die logische Folge. Mich erschüttert so schnell nichts mehr. Heute hat jemand genau das festgestellt; die gleiche Person, die an mich dachte, als sie heute Morgen Radio hörte.

Herr K. hat sich nämlich in seinem Bericht, den ich übrigens (noch) nicht zu Gesicht bekommen habe, – ja, wir sind in der Schweiz (!) – zu meiner Arbeitsfähigkeit anders geäussert als meine Hausärztin und drei beteiligte Fachärzte, die mich seit Jahren kennen und behandeln und mich – das haben schubweise verlaufende Krankheiten so an sich – in kleineren oder grösseren Abständen immer wieder sehen.

Was für ein Hohn: Er hat mich vor dem 25. August dieses Jahres nie gesehen und seit dem 25. August dieses Jahres nie wieder gesehen. Er war unvorbereitet und uninformiert, fand in den Unterlagen nichts innerhalb nützlicher Frist, weil er sie nie zuvor auch nur angeschaut, geschweige denn studiert hatte, rief meine Hausärztin in letzter Minute noch schnell an, um zu fragen, was ich denn hätte (!), stellte jede Frage  mehrmals, weil er im Denken so schrecklich träge ist, wusste über die Erkrankung nichts, bagatellisierte jegliche Beschwerden, manipulierte mein Gewicht und wohl noch andere Daten, schikanierte mich mit den nutz- und sinnlosen MS-Übungen, die in mir viel mehr auslösten, als er wohl je imstande zu denken und zu fühlen wäre.

Es gibt noch etwas zu sagen, zu diesen Übungen. Aber nicht jetzt und hier, ein anderes Mal. Es gibt überhaupt noch viel zu sagen bzw. zu schreiben. Ja, wir sind in der Schweiz: Hier läuft vieles schief. – Das Gute ist jedoch immerhin, dass man darüber schreiben und reden kann und dass es Institutionen gibt, die sich genau dies zur Aufgabe gemacht haben: Ungerechtigkeiten aufzudecken. Und immer geht es (auch) um Demütigung und Desinteresse, um Gefühlskälte und Gemeinheit, um falsche Spielchen im Namen des heiligen Mammon.

Ich hätte hier und jetzt eigentlich Lust, die Diagnose hinzuschreiben. Damit alle googeln könnten. Ich schreibe sie nicht hin. Nicht jetzt und hier. Aber ich werde weiterhin vom Leben damit berichten. Zum Beispiel davon, dass es einmal fast zu spät gewesen wäre. Und dass „Don’t pay the ferryman“ für mich seither ein Lied ist, das in allen Knochen vibriert, wenn ich es live höre. Zum Glück hatte ich ihn nicht bezahlt, den Fährmann.

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