Wunden

„Every writer needs a wound.“, habe ich vor ein paar Tagen zufälligerweise auf der Website einer englischen Autorin gelesen. Das glaube ich auch. Als ich 13 war, sagte mir mein damaliger Deutschlehrer im Gymnasium, ich solle doch versuchen, ein Buch zu schreiben. Ich war natürlich stolz, zumal ich ihn auch sonst ganz gut mochte, und ich habe ab und zu kürzere Texte geschrieben. Aber erst jetzt, 30 Jahre später, habe ich auch wirklich den Inhalt dazu.

Fantasy liegt mir gar nicht; Geschichten zu erfinden, reizt mich auch nicht so sehr. Also bleiben mir die eigenen Erlebnisse, Erfahrungen und Erinnerungen. Vielleicht sind sie darum in den letzten Jahren heftig und unerbittlich über mich hereingeprasselt, damit ich etwas zum Schreiben habe: eine Wunde, mehrere Wunden… – die haben wir alle. Wichtig ist wohl ein Weg, damit umgehen zu können, sich ausdrücken zu können – mit Malen, Musizieren, Tanzen, Schreiben und anderem.

Wunden bluten. Es gibt Menschen, die helfen, die Blutungen zu stillen, und es gibt andere, denen sie egal sind. Und es gibt Zyniker, die noch darin herumstochern. Ich bin froh und dankbar, dass viele Menschen in meinem Leben sind, die zu ersteren gehören. Das kann auf ganz verschiedene Arten passieren; ich erkenne sie und wertschätze sie alle:

Die bunte Vielfalt besteht für mich darin. Und nicht in der Tatsache, dass es auch feige und hinterhältige Verhaltensweisen gibt, die ich zu akzeptieren hätte. Ich akzeptiere sie schon, aber als das, was sie sind, nicht als zu einer bunten, interessanten und bereichernden Vielfalt gehörend. Diese besteht für mich in dem grossen und spannenden Spektrum an dem, was Menschen einander Gutes tun:

Zum Beispiel am Sonntagabend am Flughafen Kloten der deutsche Vater, der vor uns ging und mitbekam, wie Taieb und Naila einander ärgerten und schubsten, sich zu mir umdrehte und lachend sagte: „Geschwister sind doch etwas Schönes! Das ist bei uns auch so.“ Zum Beispiel heute Nachmittag der junge Herr, den ich, obschon er nicht auf dem Zebrastreifen ging, die Strasse überqueren liess und der mir zulachte. Ich musste auch gleich lachen, und wir schauten einander noch einmal an und lachten beide: eine ganz kurze Situation, die man so nie einstudieren könnte.

Oder Rahel, die mir gestern sagte, Taieb könne gerne bald einmal mit ihnen ins Hallenbad Bülach fahren oder wir könnten alle zusammen hinfahren. Oder Gion und Alexandra, die mir für morgen Abend viel Spass wünschten. Oder Bärbel und Claudia, die in ihren Kommentaren etwas aus meinen Texten aufgriffen. Auch das tut gut. Oder Tanja und Mira, die sich bei mir meldeten, damit wir uns treffen können. Ich freue mich und bin bereit für eine lange Nacht! 🙂

Ich schlafe auch lieber nicht, weil ich an einem Konzert oder einer Party teilnehme, als dass Kortison mich wach hält. Die Müdigkeit danach ist eine ganz andere: müde, aber glücklich. Nicht: müde, ausgelaugt, erschöpft und verzweifelt – wochenlang, monatelang. Bald muss ich vielleicht sagen: ein Jahr lang. Zwei Stunden Schlaf; wenn es gut geht drei oder vier.

Herr Kurmann hat keine Ahnung. Wenn er nur davon, einzig und allein davon eine Ahnung hätte, wüsste er, dass im September nicht an Arbeiten zu denken gewesen wäre. Auch nicht 50%. Auch jetzt nicht. Schon gar nicht die zynischen 100%. Aber vielleicht ist er in seinem Bericht von seinen 2,5 Milligramm ausgegangen. Er hat ja auch Jahreszahlen und andere Angaben verwechselt.

Unter 40 Milligramm geht gar nichts, meistens sind es sogar 60. Einmal mussten wir mit 80 beginnen, und einmal waren es 100. Der Arzt meinte bei einer der Kontrollen: „Gut, dass Sie nicht zu Magengeschwüren neigen; sonst hätten Sie jetzt ein Magengeschwür.“ Wort für Wort. Das sass. Ich vergesse den Satz nie mehr.

Ich hatte also Glück: kein Magengeschwür. Ich habe auch Glück, dass so viele Haare immer wieder nachwachsen, obschon mit den starken Medikamenten wirklich viele ausgehen. Ich habe Glück, dass ich trotz des vielen Kortisons nicht zugenommen habe – nicht wegen der Figur, wie schon einmal erwähnt, sondern wegen der Identität: Ich wäre nicht mehr ich, wenn ich nicht mehr schlank wäre. Das wäre schlimm bzw. würde alles noch schlimmer machen.

Kein Magengeschwür: gut so. Entzündungen von verschiedenen inneren Organen, der Augen und Gelenke reichen nämlich. Sie liefern mehr als genug „Wunde“, um schreiben zu können. Wenn sie stark sind, kommt es zu Blutungen. Innerlich, äusserlich, je nachdem, welche Organe betroffen sind.

Kleider kann man waschen, den Boden kann man aufwischen. Aber die inneren Wunden bleiben. Wenn es nächstes Mal passiert, rufe ich Herrn Kurmann. Er soll die Flecken aufwischen. Er soll sich die Hände beschmutzen und sie nicht mehr sauber kriegen. Wie Macbeth.

 

 

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