Systemhörigkeit

Heute Morgen erfuhr ich über das Radio, dass gestern Abend ein zehnjähriger Junge hier bei uns am Rhein tödlich verunglückt war. Was für ein Schmerz muss das für die Eltern, die Grosseltern, die Geschwister sein. Unvorstellbar. Furchtbar.

Meine Gedanken waren den ganzen Tag bei ihnen, auch wenn ich sie nicht kenne. Taieb geht mit einem Freund des Verunglückten in dieselbe Klasse. Sie zündeten eine Kerze an und jede(r) schrieb einen Wunsch für ihn auf ein Blatt. Taieb wünschte sich, dass Nahom wieder ein Lebewesen werden würde…

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Vergangene Nacht schlief ich kaum; mein Rhythmus ist immer noch auf Kortison eingestellt. Ich hoffe, dass im Verlaufe dieses Monats eine Veränderung eintritt, denn eigentlich ist es gar nicht meine Art, am Tag zu schlafen. Aber unter solchen Bedingungen geht es manchmal nicht anders.

Letzten Dezember wollte meine Hausärztin mich krankschreiben, und ich hätte mich fast mit ihr gestritten, weil sie die Verantwortung, dass ich weiterarbeitete, nicht (mehr) übernehmen wollte. Die beiden Monate waren dann die Hölle, und ich bereue im Nachhinein, nicht auf sie gehört zu haben. Es war ein Verschleiss, ein Raubbau – wie ein paarmal in den sieben Jahren seit Ausbruch der Erkrankung.

Der Arzt, den ich Bürokraten- oder Versicherungsarzt genannt habe, heisst in der Fachsprache übrigens Vertrauensarzt. Bezeichnend ist, worauf das Vertrauen sich bezieht. Nämlich auf das Vertrauen, das die Versicherung in ihn haben kann. Was für ein Hohn für Menschen, die langwierige Behandlungen durchstehen müssen, was für ein Hohn für Menschen, die mit Dutzenden von Auswirkungen umgehen müssen, von denen Nichtbetroffene sehr oft wenig bis keine Ahnung haben (können).

Bei ihm war ich so schwer wie nie zuvor, abgesehen von den Schwangerschaften. Wie seltsam… Zudem rundete er mein Gewicht auf. Logisch, nicht? Ich stand ja mit den Kleidern auf der Waage und bin im Übrigen offen für eine Korrektur meines mathematischen Verständnisses. Ansonsten muss ich leider bei meiner Meinung bleiben, dass das Gewicht von schlanken Personen aufgerundet und dasjenige von übergewichtigen Personen wohl nach unten korrigiert wird, damit auf dem Papier alles möglichst „normal“ und gesund aussieht.

Ich nenne die Dinge beim Namen. Ich bleibe mir selbst treu und würde mich nie einem System, hinter dem ich nicht stehe und das meine Werte nicht vertritt, anpassen und unterwerfen. Es gibt mehr als genug andere, die das tun und eigentlich laufend Selbstverrat betreiben.

Wir müssen uns vielleicht einmal unseren eigenen Todestag vorstellen: Ist es das, was wir gewollt haben? Kann es das sein?

 

2 Kommentare zu „Systemhörigkeit

  • Wieder mit spitzer Feder geschrieben, und genau das mag ich an Deinem Schreibstil! Heute hast Du mir eine meiner Fragen beantwortet, ohne dass ich sie gestellt habe: inwieweit Deine Krankheit Einfluss auf Deine Berufstätigkeit hat. Mir ging es ganz konkret um die Ausübung Deines Berufes, denn dass Du eine tolle Mutter bist (trotz Einschränkungen krankheitsbedingt), dass ist für mich klar wie Klosbrühe (ich hoffe, Du kennst das Sprichwort, im Schweizerischen ist doch manches anders als im Deutschen). Liebe Grüße Claudia

  • Danke, Claudia. Ja, mit den Kindern unternehme ich tatsächlich viel und verbringe viel Zeit mit ihnen. Ich werde sicher ab und zu darauf zurückkommen.
    Mit dem Beruf ist es so, dass er in meinem Fall zur Zeit ungeeignet ist. Auch dazu werde ich im Verlaufe des Bloggens Beispiele und Erfahrungen anführen.
    Momentan bin ich noch krankgeschrieben. Die Behandlungen dauerten Monate, und nach dem Überstehen des Entzugs müsste endlich einmal eine angemessene Erholungszeit folgen… Ja, ich verstehe den Ausdruck. Lustig, ich wollte heute eigentlich etwas zum Schweizerdeutschen Ausdruck „Sauhäfeli – Saudeckeli“ schreiben…

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