Tatsachen und Wahrheiten

Heute Mittag kam Taieb nicht nur etwas zu spät, sondern viel zu spät nach Hause. Ich war verärgert, da die Kinder um 13.30 Uhr zurück in der Schule sein mussten. Kurz vor 13 Uhr standen er und Yannik endlich vor der Türe. Sie waren wieder auf dem Friedhof gewesen. Mein Ärger verflog.

Das Grab habe sich einmal bewegt, erzählte Taieb. Es habe vibriert. Er wäre gerne ein Flieger geworden und ins Grab hineingeflogen, um mit Nahom zusammen zu sein.

Am Nachmittag holte ich ihn vom Flötenunterricht ab und wir gingen zusammen auf den Friedhof. Er hatte das so gewollt. Ich nahm eine Kerze und Streichhölzer mit und wir zündeten unsere Kerze und die anderen, die dort standen, an. Ich weinte und er fragte: „Weinst du jetzt?“

Bevor wir gingen, machte er Fotos. Den Kinderfotoapparat hatte er heimlich mit in die Schule genommen. Er machte also Fotos und ich weinte wieder.

Yannik meinte heute Morgen, ich sei ein bisschen komisch. Ja, da hat er wohl schon recht; ich bin am Morgen jeweils, wenn ich nur zwei bis vier Stunden geschlafen habe, wohl schon ein bisschen komisch. Das heisst: gereizt, gestresst und nicht wirklich ich selbst.

Den Kortisonentzug
und
die noch nicht wieder funktionierende Produktion von Cortisol der Nebennieren habe ich den Kindern auf kindgerechte Art zu erklären versucht.
Die Erkrankung an sich,
das bisweilen schlechte Blutbild
und
die Nebenwirkungen der Medikamente ebenfalls.
Wie
ein Krankheitsschub
sich anfühlt, auch.

Das alles führt zu Müdigkeit. Das heisst, eigentlich sind es verschiedene Arten von Müdigkeit, die sich überlagern und zeitweise fast unerträglich werden. Wer das nicht selbst erlebt hat, kann es sich nicht vorstellen.

Taieb meinte zu mir: „Also dafür, dass du das hast, bist du völlig ok.“ Das hat mich berührt. Und mich daran erinnert, dass ich das auch zu mir selbst sagen sollte. Denn ja, dafür, dass ich das habe, leiste ich enorm viel.

Meine Hausärztin hat mir ja gesagt, ich bräuchte Geduld. Die habe ich auch. Unangebracht ist jedoch, wenn andere sie mir nicht lassen – eine schwer auszudrückende Ungerechtigkeit.

„Das Wesentliche ist mit Sprache nicht auszudrücken“, meinte Max Frisch. Ihr wisst es ja bereits: mein Lieblingsautor. Und grosses Vorbild, genau.

Ich empfinde es auch so. Das Wesentliche, den Kern des Kerns kann ich mit Sprache nicht ausdrücken: weder Ungerechtigkeiten noch Dankbarkeit. Das akzeptiere ich und schreibe trotzdem weiter. 😉

Schweiz als Heimat? Ein Buchtitel von Max Frisch. Schweiz als Heimat? Heimat als Schweiz? Na ja, ich weiss nicht; da gibt es (viele) Dinge, die schieflaufen. Zu viele.

Wir schauen auf Länder hinunter, wo Bestechungsgelder üblich sind: an der Tagesordnung und direkt auf die Hand. Ja, habe ich auch gesehen, auch miterlebt. Ich hatte ein etwas ungutes Gefühl dabei – damals.

Und hier? Hier läuft es einfach versteckt ab, hintenherum. Doppelt gelogen. Mein Gefühl dabei ist noch schlechter als beim „Bakschisch“ in Marokko.

Auch darum schweige ich nicht mehr. Und lasse mich durch das Gerede von den verschiedenen Wahrnehmungen nicht mehr beeindrucken. Es ist ja klar, dass wir alle die Welt sowie einzelne Situationen verschieden analysieren und interpretieren.

Aber es gibt auch Tatsachen und Wahrheiten. Wenn das Gerede von den verschiedenen Wahrnehmungen vor allem dazu dient, eben diese nicht aufzudecken, ihnen nicht ins Gesicht zu schauen und diejenigen, die eben dies tun wollen, zu verunsichern und abzublocken, ist das falsch und schwach. Es ist ein Missbrauch, den ich mittlerweile durchschaue.

Damit mache ich mich nicht überall beliebt. Aber das macht mir nichts mehr aus. Hauptsache, ich bleibe mir selbst treu.

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