Systemisch

Partynudel schlief bis 10.30 Uhr, Bruderherz ebenfalls. Wir hatten Hunger und brauchten Kaffee. Kinderloses Frühstück – auch wieder mal schön.

Später gab es dann noch Crêpes mit Bananen und Nutella für die beiden. Unser Programm änderten wir, da der Himmel bedeckt und die Luft eher kühl war. Statt einer Schiff-Fahrt am Morgen machten wir eine Busfahrt am Nachmittag.

Die Sonne kam pünktlich zur Abfahrt um 14 Uhr wieder hervor und liess die kleinen, feinen Blätter der Olivenbäume silbrig schimmern, so weit wir sehen konnten. Dazwischen immer wieder Pinien. Sie erinnern mich an die Zeit vor genau zwölf Jahren, als ich meinen Mann kennenlernte – nicht in seinem Heimatland Marokko, sondern in Tunesien, wo wir fast jeden Tag „thé aux pignions“ tranken.

Auf der Fahrt nach Porto Cristo, wo wir die Drachenhöhlen und eine Perlenmanufaktur besuchten, tauchte in einer Kurve plötzlich ein übergrosses Schild auf mit dem Namen einer Klinik. Vielleicht erscheint das Schild anderen einfach gross oder sie nehmen es vielleicht gar nicht wahr; mir jedenfalls erschien es übergross. Den Namen der beworbenen Klinik hatte ich mir nämlich zu Hause aufgeschrieben.

Auch die wohlklingenden Namen Palma Clinic und Clinica Picasso. Sie vereinen die verschiedensten Fachärzte unter einem Dach. Das ist ideal. (Und hier vom Hotel aus zweimal um die Ecke hat es ein medizinisches Zentrum, das rund um die Uhr geöffnet ist.)

Das Schild fiel mir also auf. Ein kurzer Film lief in mir ab, einer von etlichen, die ich verinnerlicht habe, dann war das Schild auch schon weg und ein grosser, hellgrüner Pinienwald verschluckte es. Der „thé aux pignions“ war wieder da.

Die Drachenhöhlen besuchte ich vor langer Zeit schon einmal. Aber ich weiss wirklich nicht mehr, wann. Ich „muss“ meine Mutter fragen, in welchen beiden Jahren wir im Februar hier waren.

Dass ich einmal mit meiner eigenen Familie hierher zurückkehren würde, hätte ich damals auf jeden Fall nicht gedacht. Dass unser Sohn mich mit Fragen, die ihn interessieren und bewegen, löchern würde, bis ich kaum mehr weiss, zu welchem Land Mallorca gehört, auch nicht. Dass mir im Innersten und Untersten der Höhle durch den Kopf ginge, was jetzt wäre, wenn die Nieren versagen würden, schon gar nicht. Oder was wäre, wenn jemand einen Herzinfarkt hätte. Oder einen Hirnschlag.

Letztlich sind es diese Gedanken, ist es die Ernsthaftigkeit, der kurze Schrecken, die mich dann alles umso intensiver wahr- und aufnehmen lassen: die verworrenen Gebilde der Stalaktiten und Stalagmiten zum Beispiel. Taieb war zufrieden, dass ich ihm beantworten konnte, welche von unten und welche von oben kommen. Die Eselsbrücke aus dem Geografieunterricht im Gymnasium scheint für immer zu sitzen.

Oder die glasklaren Wassertropfen auf dem Gestein neben dem unterirdischen See. Die Töne der Geige, der Gitarre und des Klaviers, denen ich gerne zugehört hätte, bis sie vollends in den Höhlenspalten verklungen und die Musiker auf den Booten ganz verschwunden wären. (Die Leute klatschten etwas zu früh. (Macht nichts. Ich versuchte dafür, mir vorzustellen, wie „Carry me like a fire in your heart“ hier tönen würde.))

Eigentlich hätte ich es ausprobieren können… Den Song habe ich mit Sandra geübt. Singen kann ich meistens, mit den Lungen hab‘ ich kaum Probleme.

Betroffen sein können die meisten inneren Organe, die Augen, die grossen Gelenke und die Haut. Die Symptome, die Auswirkungen und die Massnahmen sind zum Teil sehr unterschiedlich, zum Teil sehr ähnlich. Lustig ist es nie.

Man nennt diese Art von Autoimmunerkrankungen systemische Erkrankungen, weil sie nicht nur ein Organ oder zwei Organe, sondern das ganze System betreffen. Der Körper erkennt körpereigenes Eiweiss als fremd. Demzufolge bekämpft er körpereigenes Gewebe.

Egal, ob man raucht oder nicht. Egal, ob man Alkohol trinkt oder nicht. Egal, ob man Süssigkeiten mag oder nicht.

Taieb hat sich im Geschäft bei den Drachenhöhlen von seinem Feriengeld ein Dinosaurier-Ei gekauft. Das müsse man zu Hause in Wasser legen und dann schlüpfe nach einer bestimmten Zeit ein kleiner Dino – Art unbekannt. Ich hoffe, es wird kein Velociraptor. 😱

Die Perlen, die in Porto Cristo hergestellt werden, sind künstliche, aber sie werden nach alter Handwerkskunst auf traditionelle Weise und in hoher Qualität angefertigt. Gerne hätte ich für meine Mutter eine Kette gekauft. Doch wir schauten den Handwerkern zu und studierten die Bilder, sodass wir danach nicht mehr viel Zeit hatten.

Wenn ich Geschenke kaufe, muss es entweder ein Spontanentscheid sein, weil mir etwas auffällt und ich weiss, dass es perfekt passt, oder ich möchte mir Zeit nehmen, das Richtige auszusuchen. Die hatte ich heute nicht. Etwas schade, aber nicht schlimm.

Das Buffet bot heute verschiedene spanische Spezialitäten. Naila schöpfte zuerst Reis. Dann legte sie Gurkenscheiben und Melonenstücke auf ihren Teller und pflanzte ein Stück Schokoladekuchen in die Mitte. 😄

Taieb ist das Abendprogramm wichtig und ich liebe es, wie er mit Leib und Seele bei der Sache ist. Naila auch, aber auf andere Art: unbeschwert, manchmal auch etwas unbedacht. Fröhlich. Musikalisch. Sonnig und strahlend. Papas Tochter…

Die Geschwister ergänzen sich wunderbar, das hab‘ ich grad heute Morgen wieder beobachtet: Naila begleitete Taieb zurück in den Laden, um etwas zu fragen, weil er sich alleine nicht traute, und er erinnerte sie daran, das Rückgeld mitzunehmen, weil sie es sonst wahrscheinlich vergessen hätte. Sie ergänzen sich, sie lieben sich, und sie streiten sich.

Und übrigens: Ich rauche nicht.

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