Wegschauen

Wir holten die Kinder um 10.15 Uhr im „Berolino“ ab. Wie jedes Mal waren sie begeistert und hatten wenig geschlafen. Taieb hat einen Jungen, den er bei der letzten Übernachtung kennen gelernt hatte, wieder getroffen und hat sich Name und Telefonnummer notiert. Dieses Mal werde ich anrufen, damit die beiden etwas abmachen können.

Das wollte ich letztes Mal schon, aber es ging leider unter. Dieses Mal werde ich anrufen. Eigentlich bin ich im Kontaktepflegen ja ganz gut.

Wir fuhren also nach Hause. Bevor die beiden auf den Rücksitzen schon fast einschliefen, stellten wir noch ein paar Fragen. Auf diejenige hin, was sie denn gefrühstückt hätten, kam die postwendende Antwort: „Nutellabrötli, Nutellamüesli und heissi Schoggi.“ 🙉

Danach gingen wir einkaufen. Taieb brauchte Klebeband für das Geschenk, das er an die Geburtstagsfeier seines Schulfreundes mitnahm. Hotwheel. Er findet es supercool, gab sich grosse Mühe beim Einpacken und verwendete dafür Weihnachtspapier (siehe Beitragsbild).

Ich bin froh und stolz, dass beide Kinder sehr selbständig sind. Das hat sicher viel mit ihrem Naturell zu tun, aber auch mit der Erziehung sowie der Tatsache, dass ich nicht immer hinter oder neben ihnen stehen und ihnen alles abnehmen konnte. Was ich ja sowieso nicht gewollt hätte… Umso selbständiger sie sind, desto mehr wachsen ihr Selbstbewusstsein und ihr Selbstvertrauen – etwas vom Wichtigsten im Leben, in guten und noch viel mehr in schwierigen Zeiten.

Als wir an der Kasse waren, konnte Taieb sein Erstaunen über den Herrn, der vor uns bezahlte, nicht zurückhalten: „Mama, hast du gesehen, für 249 Franken…!?“ Die Zahl seeehr laaanggedeeehnt ausgesprochen.

Der chinesisch ausschauende Herr überliess Taieb die kleinen grünen Päckchen, die man pro 20 Franken Einkauf bekommt und in denen ein „farm animal“ drin ist. Die Dame an der Kasse erklärte ihm, dass man heute die doppelte Anzahl von diesen grünen Päckchen bekomme. Eine andere Kundin überliess ihm die ihrigen ebenfalls, und wir haben ja auch ein paar eigene bekommen.

Ich bedankte mich bei beiden. Der chinesisch ausschauende Herr wünschte mir ein schönes Wochenende. Unser Fussboden im Wohnzimmer ist jetzt grün und Taiebs Glück komplett.

Beim Schreiben erhebe ich keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Ich berichte über meine Erlebnisse und Erfahrungen, ich äussere meine Gedanken und Gefühle. Gute Texte sind für mich persönliche, ehrliche, fassbare und anregende Texte. Dazu gehören Gefühle, dazu gehören Gedanken, die weiterführen, dazu gehören für mich bisweilen auch das Vergleichen und Werten. Sonst entstehen oberflächliche und wenig aussagende Texte, von denen es haufenweise gibt und die weder sprachlich noch inhaltlich interessant sind.

Die Klarheit, die zwischendurch zum Ausdruck kommt, ist nie böse gemeint, widerspiegelt aber meine Werthaltung, die in gewissen Fragen eben klar ist: Beispielsweise würde ich nie einen Freund oder eine Freundin, eine Kollegin oder einen Kollegen, dem oder der es schlecht geht und die oder der mir nichts zuleide getan hat, im Stich lassen. Das geht einfach nicht. Dass es für gewisse Leute geht, sagt ganz viel über sie aus und ganz wenig über die Person, die sie hängen lassen und über die sie ein falsches Urteil fällen. Denn wenn jemand mir persönlich nichts zuleide getan hat, welchen Grund ausser eben falschen Bildern hätte ich dann für mein Verhalten?!

Lange und hochdosierte Kortisontherapien bringen nicht nur den Schlaf-/Wachrhythmus total durcheinander, sondern führen auch zu Kopfschmerzen, Augenbeschwerden, Gelenkbeschwerden, Gewichtszunahme, Haarausfall, Hautveränderungen und weiteren Nebenwirkungen. Manchmal wusste ich gar nicht mehr, ob es sich um Symptome der Erkrankung oder um Nebenwirkungen der Medikamente handelte. Auch macht Kortison die Haut dünn. Gegen Ende der letzten Behandlung lösten sich Hautteile auf den Händen, am Kinn und auf der Stirne. Sie waren zum Glück klein, und man sah davon kaum etwas bzw. sah es nicht auffällig aus, weil solche kleinen Hautteile sich auch aufgrund einer Verletzung ablösen können.

Ich wusste natürlich, dass ich mich nicht verletzt hatte, schon gar nicht an verschiedenen Orten gleichzeitig, und ich wusste natürlich, was die Ursache war. So war ich denn einfach froh, dass die Behandlung bald zu Ende sein würde. Sie war sowieso zu lange gewesen… Darum geht es jetzt auch so lange, bis die Nebennieren wieder anfangen, das körpereigene Cortisol zu produzieren, und bis ich wieder eine Chance auf einen halbwegs „normalen“ Tages- und Nachtrhythmus habe.

Gegen diese Müdigkeit gibt es kein Mittel; da nützt kein Kaffee, keine Cola, kein Schwarz- oder Grüntee, kein Orangensaft, kein Red Bull, kein Energydrink, kein gar nichts. Kein Zucker, kein Vitamin C, kein Koffein. Nur schlafen. Dann, wenn der Körper bereit dazu ist – leider zu äusserst ungewöhnlichen Zeiten. Früher habe ich nie am Tag geschlafen. Nie.

Vorhin habe ich ein kurzes Video über Syrien gesehen. 100 Kinder starben letzte Woche, 200 wurden verletzt, weniger als 30 Ärzte verbleiben in der Stadt Aleppo. Wir machen nichts und schauen zu. Oder noch schlimmer: Wir schauen weg. Und am schlimmsten: Wir werfen einander auf den sozialen Medien vor, nicht nur „Friede, Freude, Eierkuchen-Bilder“ zu posten, die Spasskultur zu wenig zu pflegen und beim ständigen „ich habe keine Probleme“-Vorgaukeln nicht mitzumachen.

Was ich mit „sinnvoller Arbeit“ meine: sicher nicht das Fördern von extrinsischer Motivation, von Ego-Trips und von Fixiertheit auf Äusserlichkeiten bei jungen Menschen. Sondern das, was die weniger als 30 Ärzte in Aleppo tun. Zum Beispiel.

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