Das kleine Kap und die Kirche

Das Zurückkommen nach Chersonissos (Kreta) ist für mich auch ein Eintauchen in meine eigene Geschichte und eine Auseinandersetzung damit. Als ich im Mai 2016 zum zweiten Mal auf Kreta und zum ersten Mal im Hotel Aldemar Knossos Royal war, nahm ich Kortison in hohen Dosen. Das sah mir niemand an – das Kortison nicht, die hohen Dosen schon gar nicht. Ich hatte nicht zugenommen, ich sah gut aus.

Als wir aus den Frühlingsferien zurückkamen, hatte ich ähnliche Untersuche wie diesen Monat, genauer am 6. Oktober (siehe Beitrag von eben diesem Datum („Propofol – und kein schöner Traum“)); die damaligen Resultate waren – trotz vorangegangener Behandlung mit Kortison (!) – ernüchternd, um nicht zu sagen erschreckend: schwere und ausgeprägte Entzündungen mehrerer innerer Organe und – damit – das offenbare Versagen der Behandlung mit Kortison.

Schlimmer als das war für mich jedoch, dass (ehemalige) Arbeitskollegen und -kolleginnen sowie meine damaligen Vorgesetzten, die sich ihre totale Überforderung, ihr (von etlichen Aussenstehenden wahrgenommenes) Burnout niemals eingestehen konnten, meinten, ich hätte schon nichts Schlimmes und würde bezahlten Urlaub machen. An dieses unermessliche Unrecht werden niemals Worte herankommen. Das ist vielleicht auch der Grund, warum ich noch nicht vollständig darüber hinweg bin, es vielleicht auch nie sein werde. Weil ich nicht ausdrücken kann, was für ein Unrecht es war, das auch nur zu denken, geschweige denn zu äussern, zu behaupten.

Wofür es jedoch Worte gibt: Ich habe seit 2009 eine chronische Erkrankung, eine Autoimmunerkrankung, die in der Fachliteratur als schwere Erkrankung bezeichnet wird. Was das bedeutet? Davon erzählt mein Blog, das heisst von einem Teil davon.

Ich bin heute mit Peter und den Kindern über die Felsen, das kleine Kap zwischen den zwei Buchten bei „unserem“ Hotel, gekraxelt, das kleine Kap, das mir viel bedeutet. Es wirkte damals, im Mai 2016, so zauberhaft auf mich, dass ich spürte, dass das Leben weitergehen würde – auch wenn mich Leute, von denen ich ein bisschen mehr erwartet hätte, einfach hängen liessen. Aber ich hatte sie überschätzt; sie sind zu dem, wozu sie hätten fähig und bereit sein sollen, nicht imstande.

Dafür haben andere mich positiv überrascht. Zu ihnen hab‘ ich den Kontakt nie verloren; ausserdem hab‘ ich zu vielen „neuen“ Menschen Kontakt aufbauen können. Mein Leben ging weiter, mein Leben änderte sich, meine Liebe zum Leben hat die Krankheit in den Hintergrund gerückt. Das (und noch mehr) symbolisiert dieses kleine Kap für mich; wenn ich hier bin, spüre ich es im ganzen Körper.

Eine ähnliche Erfahrung machte ich damals, im Mai 2016, in der Kirche Agios Titos in Heraklion, der Hauptstadt von Kreta. Eine ähnliche Erinnerung, eine, die für immer bleibt, verbindet mich mit ihr. Ähnlich – aber noch einschneidender, noch unmittelbarer auch.

Ich besuchte die Kirche mit Taieb, als innere Blutungen – aufgrund der chronischen Entzündungen – zu stark wurden und Wege nach aussen suchten. Ich merkte noch, dass Blut fliessen würde; ich merkte auch, dass mir Schwarz vor den Augen wurde, und ich konnte mich gerade noch auf eine der Kirchenbänke setzen und den Kopf auf meine Hände legen, bevor ich umgekippt wäre. Ich kam wieder zu mir; wohl auch, weil ich ein zehnjähriges Kind dabei hatte. Ich verliess die Kirche und ging in eines der gegenüberliegenden Cafés.

Damals wurde mir auch klar, dass ich in diese Kirche zurückkehren wollte – in einem anderen (Gesundheits-)zustand. Das konnte ich, bis zu einem gewissen Grad jedenfalls, bereits ein Jahr später, im Frühling 2017. Und ich konnte es vorgestern wieder – dieses Mal in dem (Gesundheits-)zustand, wie ich es mir vorgestellt hatte. Zwar nicht gesund in dem Sinn, wie Gesunde eben gesund sind. (Das haben chronische Erkrankungen halt so an sich…) Aber so, dass vieles viel besser aussieht als vor fünfeinhalb Jahren.

Und wenn ich grad so darüber schreibe, dass „chronisch“ halt eben „für immer“ bedeutet, dann fällt mir auch ein, wie hohl und hochmütig mir die „Long-Covid“-Diskussionen und das Lamentieren darüber vorkommen. Jede chronische Erkrankung ist „LONG“, fucking „long“ sogar. Zum Beispiel 10, 30, 50 Jahre lang… A sentence for a lifetime.

Was also soll das ganze Theater um „Long-Covid“?! Wie sollen all‘ die Menschen, die eine schwere chronische Erkrankung haben und sich kaum ’was anmerken lassen, sich fühlen? Und wie würden all‘ die super (schein)heiligen „Corona“-Solidarischen (Unwort des Jahrzehnts!) sich wohl verhalten, wenn wir es uns die ganze Zeit anmerken lassen und die ganze Zeit darüber reden würden? Wo wäre dann ihre Solidarität?

Höchstwahrscheinlich gar nirgends. Solidarisch sind sie nämlich nur, wenn sie sich damit schmücken können. Das geht seit März 2020. Aber der Schmuck ist Fake. (Sie brauchen ihn offenbar, diesen Fake-Schmuck.)

Jetzt hab‘ ich schon mehr darüber geschrieben, als ich eigentlich wollte. Aber alles, was es darüber zu sagen gibt, ist es natürlich (noch) nicht. Vielleicht ein anderes Mal – kann gut sein.

Wir haben den vorerst letzten Nachmittag in Chersonissos genossen: Die Kinder konnten noch einmal auf ihrem geliebten Water Sofa fahren und Peter konnte auf einem Katamaran segeln. Jetzt freuen Peter und ich uns auf den kretischen Abend. 😍

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